Die Geächteten
hatten. »Wir müssen reden. Du hast keine Symptome, oder?«
»Nein. Aber ich bin auch erst in neun Tagen so weit. Und hoffentlich habe ich dann noch eine Gnadenfrist. Wenn nicht …«
»Hör mir zu, wenn du irgendetwas spüren solltest, was auch immer, erzählst du es mir. Aber lass es die anderen nicht wissen.«
»Warum nicht?«
»Ich habe gestern gehört, wie Susan und Anthony darüber gesprochen haben. Sie halten dich für eine Belastung. Simone hat den Befehl, dich zu töten, wenn bei dir die Zerstörung beginnt.«
Kaylas Augen wurden weit. »Und was hat Vincent gesagt?«
»Wer ist Vincent?«
Kaylas Hand flog an den Mund.
»Ist das der richtige Name von Paul?«
»Ja. Sie haben alle die Namen von berühmten Feministen. Susan B. Anthony. Simone de Beauvoir. Alice Paul.«
Der Name Susan B. Anthony sagte Hannah etwas, alle anderen waren ihr unbekannt. Doch selbst diese Frau war nur ein Gesicht auf einer alten Münze in der Sammlung von Hannahs Vater. Etwas zerrte an ihrer Erinnerung. »Raphael«, murmelte sie und stieß auf die Verbindung. Nicht Raphael, der heilende Erzengel, sondern Raphael Patiño, der Gouverneur Floridas, der sofort verhaftet worden war, nachdem er gegen die Gesetze zur Unantastbarkeit des Lebens sein Veto eingelegt hatte. Hannah war damals fünfzehn Jahre alt gewesen. Ihre Eltern hatten an diesem Abend eine ihrer äußerst seltenen Auseinandersetzungen gehabt, weil ihre Mutter sich geweigert hatte, zusammen mit ihrem Vater für die Seele des Gouverneurs zu beten. Becca – wie immer die Friedensstifterin – gelang es, die beiden zu beschwichtigen, und Hannah kniete sich mit ihrem Vater auf den Boden des Wohnzimmers und betete. Danach hatte ihr Vater seine Hand auf ihren Kopf gelegt und ihr gesagt, dass sie ein gutes Mädchen sei. Sie konnte es jetzt spüren, das Phantom eines warmen, anerkennenden Gewichts, und es verwandelte ihr Herz in eine trockene Wüste.
»Hannah!« Kayla zerrte sie ungeduldig am Arm. »Was hat Vincent gesagt?«
»Er hat mit ihnen gestritten. Doch am Ende hat er ihnen darin zugestimmt, dass deinetwegen die Mission nicht gefährdet werden dürfe.«
»Dann hat er ihnen etwas vorgemacht«, sagte Kayla. »Er würde es nie zulassen, dass Simone mir etwas antut.«
»Ich weiß nicht, Kayla. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, doch er klang so, als hätte er es ernst gemeint.«
»Und ich sage dir, das kann nicht sein. Das kann er nicht gemeint haben. Er ist ein guter Mann.«
Kaylas Gewissheit und die unverhüllte Zärtlichkeit, die darin mitschwang, verärgerten Hannah.
»Nur weil du mit ihm geschlafen hast, heißt das nicht, dass du ihm trauen kannst«, sagte sie.
»Ich vertraue ihm voll und ganz. Ich kenne ihn, Hannah.«
»So, wie du TJ kanntest?«
Auch wenn die Bemerkung sie verletzt haben musste, Kayla zeigte es nicht. Sie sah Hannah nur fortwährend an, mit einer ruhigen Erhabenheit, die Hannah mit Zorn erfüllte. Wer ist jetzt die Zicke?
»Es tut mir leid«, sagte Hannah. »Ich schätze, ich bin neidisch. Nicht weil du Paul hast – Vincent –, sondern weil du überhaupt jemanden hast. Weil du mit der ganzen Sache nicht allein bist.« Sie berührte ihr Gesicht. »Ich weiß, dass ist kleinkariert von mir.«
Kayla seufzte versöhnlich. »Die Liebe ist schon eine merkwürdige Sache, nicht? Sie hindert dich daran, alleine zu sein.«
»Ja.« Oder mit irgendjemand anderem zusammen zu sein, dachte Hannah. Trotz allem, was geschehen war, konnte sie sich nicht vorstellen, jemals einen anderen Mann zu lieben. Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob durch die Liebe zu ihr Aidan noch gerne mit Alyssa zusammen war. Hannah hatte ihn nie nach seiner Beziehung zu Alyssa gefragt, nicht danach, ob beide miteinander intim seien. Sie hatte nur gehofft, dass dies nicht der Fall war. Doch jetzt, wo sie aus dem Rennen war, würde er bestimmt wieder in Alyssas Bett zurückkehren, wenn er dies nicht schon längst getan hatte. Wenn er es denn überhaupt jemals verlassen hatte.
Hannah sah, wie Simone den Einkaufsmarkt verließ und in Richtung Toilette verschwand. So hatten sie noch einige Minuten.
»Hör zu«, sagte sie, »ich muss dir noch etwas erzählen. Einige der anderen Frauen, die sie auf diesen Weg geschickt haben, sind spurlos verschwunden. Sie planen, uns als Köder zu benutzen, um herauszufinden, wer dahintersteckt. Simone hat jemanden mit dem Namen George in Verdacht, doch Paul denkt, dass es zwei Frauen sind – Betty und Gloria.«
Kaylas Gesicht sah besorgt,
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