Die Geächteten
kochte. Nicht nur das. Auch in ihr brodelte es.
Als sie zum Lieferwagen zurückkehrte, saß Simone auf dem Beifahrersitz, und die Holzkisten waren vorn geöffnet. Kayla war bereits in ihrer. Sie hockte dort mit an die Brust angezogenen Knien. Hannahs Nervosität musste ihr deutlich ins Gesicht geschrieben stehen, denn Paul sagte: »Die Öffnung ist aufklappbar, siehst du? Und die Kiste wird von innen, nicht von außen verschlossen. Um herauszukommen, musst du nur diesen Riegel umlegen.« Er machte es vor. Sie starrte Simone an. Diese wiederum sah sie durchdringend an. Hannah atmete ein letztes Mal frische Luft ein und kroch in die Kiste. Paul schwang die Tür zu, und sie tastete an dem Riegel herum und verschloss die Kiste. Kurz darauf fuhr der Lieferwagen wieder los.
»Geht es euch gut da drin?«, fragte Paul.
»Ich fühle mich ziemlich verderblich«, sagte Kayla, »aber sonst geht es mir prima.«
Hannah lächelte. »Mir auch«, sagte sie, und das entsprach sogar der Wahrheit. Die pechschwarze Dunkelheit half ihr dabei, weil sie nicht sehen konnte, wie eingeengt sie war. Die Kiste hatte sogar etwas Angenehmes, sie roch nach gesägtem Holz, und das erinnerte Hannah an die Garage ihres Vaters. Die Schreinerei war sein Hobby, und Hannah hatte es immer geliebt, ihm bei der Arbeit zuzusehen. Eines ihrer Lieblingsstücke war ein Puppenhaus, das er für sie gezimmert hatte, als sie fünf Jahre alt war. Auch Becca hatte eines bekommen, und jedes Jahr an ihren Geburtstagen und Weihnachten hatten sie ein oder zwei Mini-Möbelstücke dazubekommen. Diese waren so sorgfältig gearbeitet worden, dass sie echt aussahen. Die winzigen Esszimmerstühle waren ausgestopft und mit rotem Samt gepolstert, die winzige Kommode hatte Schubladen, die man öffnen und schließen konnte, und auch der Toilettendeckel ließ sich öffnen und schließen. Als Hannah älter wurde, hatte sie begonnen, eigene Dekorationen herzustellen, etwa mit der Hand genähte Miniatur-Teppiche, kleine Vorhänge und Bettwäsche. Selbst als sie dem Alter für Puppenhäuser entwachsen war, hatte sie das Haus niemals weggestellt. Es behielt seinen Ehrenplatz auf dem Regal, eine lebendige Erinnerung an die Liebe ihres Vaters.
Noch etwas innig Geliebtes, das sie verloren hatte.
Als sie sich dem Checkpoint näherten, stieß Paul eine Warnung aus. Der Lieferwagen fuhr langsamer, und Hannah hielt den Atem an. Sie konnte die Blicke der Polizisten, die den Lieferwagen taxierten und noch nicht wussten, ob sie ihn anhalten würden oder nicht, förmlich spüren. Ihre Lungen begannen zu brennen, als sie merkte, wie der Lieferwagen schneller fuhr. Simone sagte: »Wir sind durch. Ihr könnt jetzt rauskommen.« Hannahs Atem entlud sich in einem lauten Zischen.
Simone verteilte das Essen. Hannahs Appetit, der auf dem Tiefpunkt gewesen war, seitdem sie Aidan im Video gesehen hatte, war zurückgekehrt, und sie verschlang ihr Sandwich. Wortlos gab Simone ihr die Hälfte von ihrem ab. Während Hannah aß, studierte sie ihr Gegenüber und dachte bei sich, was für ein Rätsel Simone doch war: in der einen Minute schroff und rücksichtslos, in der nächsten freundlich und großzügig.
»Wohin geht es?«, wagte Kayla zu fragen, den Mund voll mit Tortilla-Chips.
»Ost-Mississippi, unweit der Grenze zu Alabama«, erklärte Paul. Eine kleine Stadt mit dem Namen Columbus.«
»Gut, dass wir im Dezember dorthin fahren«, sagte Kayla.
»Warum?«, fragte Hannah.
»Weil es dort die meiste Zeit im Jahr heißer ist als auf der Sonne. Ich war dort, als ich mich fürs Studium beworben habe. Ich weiß nicht, wie es irgendjemand aushalten kann, dort zu leben. Auf dem Campusrundgang bin ich fast geschmolzen.«
»Nun, Dallas ist auch nicht gerade der Nordpol.«
»Nein, aber wir haben nicht diese hohe Luftfeuchtigkeit. In Mississippi hat man den Eindruck, als säße man in der Lieblingssauna des Teufels. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so geschwitzt.«
Paul kicherte, und Simone sagte ungeduldig: »Wenn ihr drei mit eurem Schwatz fertig seid, würde ich gerne nachdenken.«
Ein bedrücktes Schweigen senkte sich auf den Lieferwagen. Einige Menschen können es einfach nicht ertragen, andere fröhlich zu sehen, dachte Hannah. Und dann fiel ihr mit einem Anflug von Schuld ihre eigene Reaktion auf Kaylas Glück mit Paul ein. Bitte, Gott, lass mich nicht so werden. Die Bitte kam reflexartig, und ihre Sinnlosigkeit wurde Hannah sofort bewusst, nachdem sie das Stoßgebet gesprochen hatte. Gott,
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