Die Geächteten
aber nicht wirklich überrascht aus. »Ich weiß. Ich wollte dir das auch noch sagen. Vincent hat es mir gestern Abend erzählt. Er sagte, er würde auf der Hut sein, wir sollten uns keine Sorgen machen, er würde auf uns aufpassen.« Sie machte eine Pause und sah aus dem Fenster zu ihm. Mit sanfter Stimme fuhr sie fort: »Er will nach Kanada kommen, um mich zu treffen. Ich glaube, er liebt mich.«
»Liebst du ihn?«
Kayla seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich mag es, wie er mich ansieht. Ich mag, wie er mich berührt, als wäre ich …« Sie zögerte, während sie nach den richtigen Worten suchte.
»Als wärst du etwas ganz Besonderes. Etwas unglaublich Kostbares.« Hannahs Augen brannten, und sie schloss sie. Sie wollte nicht weinen.
»Du liebst ihn immer noch, den Mann, der dich geschwängert hat.«
»Ja.« Auch wenn er mich nicht mehr liebt . »Doch alles ist mit Wut und Schmerz vermischt. Es ist nicht mehr rein.«
Kayla lachte kurz auf. »Ist es das jemals?«
»Ich hielt es dafür, wenigstens am Anfang, aber mit wem habe ich mich amüsiert? Er war verheiratet. Ist es noch.«
»Deshalb hast du niemals seinen Namen genannt?«
Zuerst antwortete Hannah nicht. Sie hatte seinen Namen in den vergangenen sechs Monaten nicht laut ausgesprochen und ihn auch sonst nur ihm gegenüber genannt. »Pastor Dale«, hatte sie gesagt, doch nicht seinen ersten Namen, den Namen, den sie in Ehren hielt. Der Name, der verboten war. Sie hatte ihn hinter ihren Zähnen festgehalten wie eine zusammengerollte Schlange, zwei Jahre lang. Lange genug, wie sie jetzt fand.
»Sein Name ist Aidan. Aidan Dale.«
»Wow! Der Aidan Dale, der Minister für Glaubensfragen ist? Seine Exzellenz, die so selbstgefällig und heuchlerisch fromm ist?«
»Eigentlich ist er es nicht. Er ist einer der demütigsten Menschen, die ich jemals kennengelernt habe.«
»Heilige Scheiße! Aidan Dale. Ihm muss der Arsch auf Grundeis gegangen sein, als du vor Gericht warst.«
»Nein. Ich denke, er wollte, dass ich ihn als Vater benenne. Er hat mich praktisch darum gebeten.« Hannah hörte ein dumpfes Geräusch und schaute nach draußen. Paul/Vincent machte das Ladekabel los, und Simone war unterwegs.
»Schau, ich weiß, du glaubst, du kannst Paul vertrauen, und ich hoffe, du hast recht. Doch versprich mir, dass du es erst mir erzählst, wenn du dich irgendwie merkwürdig fühlst.« Kayla nickte halbherzig, und Hannah griff nach dem Arm ihrer Freundin. »Versprich es. Und hör auf, ihn Vincent zu nennen, denk nicht einmal an ihn als Vincent. Wenn dir das vor Simone rausrutscht, weiß ich nicht, was sie machen wird.«
»O. K, Sergeant Payne, ich verspreche es.« Kayla lächelte, und Hannah durchströmte ein Gefühl von Liebe und Dankbarkeit für ihre Freundin. Und sie dachte, wenn die schrecklichen Henleys nicht gewesen wären, hätten sie nie zueinandergefunden.
Paul fuhr an die Seite der Tankstelle, wo sich die Toiletten befanden. Kayla ging zuerst, dann Hannah. Der Raum war dreckig und stank nach Urin. Die Wände waren mit Graffiti beschmiert: EMILIA ES UNA PUTA; SCHEISS AUF ALLAH UND DAS KAMEL, AUF DEM ER RITT; STOPPT DAS BLUTVERGIESSEN, TÖTET DIE MORALISTEN!!! Die Zeichnungen waren noch verstörender: ein Blauer, der gelyncht worden war, mit hervortretenden Augen und heraushängender Zunge, darüber Buchstaben im Stile von Galgenmännchen, die den Schriftzug BLAUES HALSBAND bildeten; ein kostbar gekleideter chinesischer Mann, dessen Penis von Angehörigen des Volkes der Mandschu gehalten wurde, während er auf etwas am Boden pinkelte. Vor sechs Monaten hätte Hannah beim Anblick dieser Bilder eine Mischung aus Abscheu und Betroffenheit empfunden, darüber, dass jemand zu so etwas Hässlichem und Wütendem fähig war. Nicht, dass sie die Gewalt, die in der Welt herrschte, nicht wahrnahm – sie war in der Stadt aufgewachsen, wenn auch wohlbehütet. Und als ihr Vater bei dem Terroranschlag fast ums Leben gekommen wäre, hatte sie ihren Glauben daran, dass sie und diejenigen, die sie liebte, unverwundbar waren, verloren. Aber sie hatte das Ganze als außergewöhnliches Ereignis betrachtet, als etwas aus einer anderen, entfernten Wirklichkeit, die in ihr Leben eingedrungen war. Wenn sie jetzt auf diese schäbigen Kritzeleien sah, verspürte sie zwar Abscheu, doch geschockt war sie nicht mehr. In der Welt, in der sie momentan lebte, waren Gehässigkeit und Gewalt an der Tagesordnung, und sie war sich bewusst, dass es in den Herzen der Menschen um sie herum
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