Die Geächteten
auf dem anschwellenden Bauch und wie sie später liebevoll den Kopf des Babys streichelte. Becca war für die Mutterschaft geboren. Seit sie kleine Mädchen waren, hatte sie davon geträumt, und im Dunkeln hatten sie sich ihre Fantasien zugeflüstert. Becca wollte unbedingt sieben Kinder haben, genauso wie in dem Musical The Sound of Music . Und ihre erste Tochter, das hatte sie versprochen, würde auf den Namen Hannah getauft.
Die Erinnerung war wie eine Keule, die mit grausamer Teilnahmslosigkeit geschwungen wurde. Hannah würde nun keine Namensvetter mehr haben. Sie würde im Leben ihrer Neffen und Nichten keine Rolle mehr spielen, würde zu ihrer Taufe nicht eingeladen werden, würde ihnen niemals Geschichten vorlesen oder ihnen beim Schaukeln Schwung geben. »Tante Hannah« würden für Beccas Kinder Worte der Schande sein, wenn sie sie überhaupt sagen würden. Es wären Kinder, die neben ihrem Leben aufwachsen würden.
»Im April ist es so weit«, sagte ihr Vater. »Sie und Cole sind überglücklich.«
Hannah durchforstete ihre Gefühle auf der Suche nach etwas, das sie ihrer makellosen Schwester mitgeben könnte. Sie suchte nach etwas, was sie hundertprozentig meinte. Sie konnte nur sagen: »Richte ihr liebe Grüße aus.«
»Das werde ich.« Ihr Vater streckte seine Hand aus und berührte Hannahs Wange. »Sie lässt dir Grüße ausrichten, und ich soll dir sagen, dass sie dir schreiben wird. Wenn du zurückschreibst, sende den Brief an mich. Ich werde ihn ihr dann aushändigen.« Er hielt inne. »Ich weiß, dass du verängstigt bist, aber ich werde einen Plan entwickeln, das verspreche ich dir. In der Zwischenzeit bist du hier sicher, und man sorgt für dich. Und vielleicht kann man dir helfen, ein wenig Gnade zu finden. Ich bete darum, dass sie es können, Hannah. Ich werde jeden Tag beten.«
Ihre Liebe zu ihm schnürte ihr die Kehle zu, ein dicker Kloß saß in ihrem Hals. »Danke, Daddy, danke für alles, was du getan hast. Wenn es für dich nicht …«
»Du bist meine Tochter«, sagte er, bevor sie den Satz beenden konnte. »Das wird sich niemals ändern.«
Sie beugte sich vor, drückte ihn ganz fest, sagte ihm, wie sehr sie ihn liebe, und stieg dann aus dem Wagen. Sie ging an dem Rosenstock vorbei zum Eingang. Rechts von der Tür war ein Messingschild mit einer Inschrift. Darauf stand:
ABER DIE BLINDEN WILL ICH AUF DEM WEGE LEITEN, DEN SIE NICHT WISSEN; ICH WILL SIE FÜHREN AUF DEN STEIGEN, DIE SIE NICHT KENNEN. ICH WILL DIE FINSTERNIS VOR IHNEN HER ZUM LICHT MACHEN UND DAS HÖCKERIGE ZUR EBENE. DAS ALLES WILL ICH TUN UND NICHT DAVON LASSEN. – Jesaja 42, 16
Sie las die letzten Worte des Verses noch einmal, indem sie diese laut flüsterte. Kein Gefängnis , sagte sie sich, ein Heiligtum . Sie spürte, wie ihr Vater untätig im Auto saß und sie beobachtete. Sie hob eine Hand, um Lebewohl zu sagen, ohne sich jedoch umzudrehen. Sie nahm eine aufrechte Haltung an und versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war verschlossen, doch einige Sekunden später hörte sie ein Klicken. Sie drückte die Tür auf und schritt über die Schwelle.
MARIA MAGDALENA SELBST NAHM HANNAH IN EMPFANG. Maria in dreifacher Lebensgröße, nur bekleidet mit ihrem langen, welligen Haar, voller Verehrung himmelwärts blickend. Ein blasser, rundlicher Arm ruhte auf ihren Brüsten, die an beiden Seiten rosarot hervorguckten. Hannah konnte nicht anders, als die Brüste anzustarren. Sie kannte das Bild – es hing in einer der Kapellen der Kirche des Entzündeten Wortes –, aber da bedeckte Magdalenas Haar ihren gesamten Körper. So viel üppiges rosafarbenes Fleisch, so weich und sinnlich, und das an einem solchen Ort war verwirrend und beunruhigend.
»Das ist Maria Magdalena«, sagte leise eine heftig näselnde Stimme.
Erschrocken wandte Hannah den Blick von dem Bild ab und sah in das Gesicht einer jungen Frau, die hinter ihr stand. Sie war groß und knochig, umhüllt von einem verblassten Kleid im Prairie-Style, das sie vom Hals bis zu den Füßen bedeckte. Ihr Haar war zu einem Knoten hochgesteckt und wurde von einer plissierten weißen Haube mit langen, herabhängenden Bändern gekrönt. Sie trug ein kleines Silberkreuz und hielt einen Strohbesen in der Hand. Wenn sie nicht diese gelbe Hautfarbe gehabt hätte, hätte sie geradewegs aus dem 19. Jahrhundert stammen können. Hannah sah sie entsetzt an. Offensichtlich waren diese Leute extrem fundamentalistisch. Hatten ihre Eltern das gewusst, als sie entschieden hatten, sie
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