Die Geächteten
log sie. Ihr Herz raste immer noch. Würde es jetzt immer so weitergehen? Würde sie jemals wieder einen Tag ohne Spott oder Angst erleben?
Ihr Vater fuhr vor ein unscheinbares vierstöckiges Gebäude an einer Geschäftsstraße und hielt an. »Das ist es«, sagte er. Es sah aus wie ein Gesundheitszentrum oder ein öffentliches Gebäude. Ganz diskret stand über der Tür: DAS ZENTRUM DES GERADEN WEGES. Neben dem Eingang stand ein Rosenstock, an dem noch einige spät blühende Rosen für alle, die vorbeigingen, ihre fragile Schönheit entfalteten. Es waren rote Rosen, einst Hannahs Lieblingsblumen. Jetzt schien ihre leuchtende Farbe sie zu verspotten.
Sie drehte sich ihrem Vater zu, in der Erwartung, dass er den Motor abstellen würde. Doch er blieb regungslos sitzen, sah geradeaus, und seine Hände hielten das Lenkrad fest umklammert.
»Kommst du nicht mit mir?«, fragte sie.
»Ich kann nicht. Du musst ganz allein dort hineingehen, freiwillig. Und du darfst nichts mitbringen, nur dich selbst. Das ist eine der Regeln.«
»Ich verstehe.« Ihre Stimme war angespannt und hoch. Sie schluckte, versuchte, weniger ängstlich zu klingen. »Wie oft kannst du mich besuchen?«
Ihr Vater schüttelte den Kopf, und die Leere in ihr nahm immer mehr Raum ein. »Besucher sind nicht erlaubt und auch keine Anrufe. Die einzige Kommunikation, die sie mit der Außenwelt zulassen, sind Briefe.«
Wieder ein Gefängnis . Sechs weitere Monate, ohne ihn zu sehen, ohne Becca zu sehen, ohne ihre Stimmen zu hören – wie sollte sie das ertragen?
Ihr Vater drehte sich zu ihr um; er sah ergriffen aus. »Ich mag es genauso wenig wie du, aber im Augenblick ist das die beste Option, die wir haben. Das ist die einzige Möglichkeit, bei der ich dich in Sicherheit weiß, bis ich für dich andere Lebensbedingungen geschaffen habe. Ich werde dich holen, sobald ich kann.«
»Weiß Mama darüber Bescheid? Weiß sie, dass du mit mir hier bist?«
»Natürlich. Sie war es doch, die diesen Ort gefunden hat. Es war ihre Idee, dich hierher zu bringen.«
»Um mich nicht sehen zu müssen«, sagte Hannah verbittert.
»Um dir zu helfen, Hannah. Sie ist noch wütend auf dich, aber sie liebt dich.«
Hannah erinnerte sich an das Gesicht ihrer Mutter, als diese den Besucherraum des Gefängnisses verlassen hatte. Wie angeekelt sie gewirkt hatte, als würde sie etwas Faules riechen. »Ja, sie liebt mich so sehr, dass sie mich verstößt.«
»Sie hat vier Tage geweint, nachdem man dich verurteilt hatte. Sie wollte nicht essen, sie wollte nicht aus dem Haus gehen.«
Hannah saß regungslos da. »Es muss für sie demütigend gewesen sein, eine verurteilte Schwerverbrecherin zur Tochter zu haben. Was würden die Nachbarn sagen?«
Ihr Vater packte sie am Handgelenk. »Jetzt hör mir gut zu. Nicht Scham hat deine Mutter daran gehindert, aus dem Haus zu gehen, es war tiefe Trauer. Tiefe Trauer, Hannah.« Seine Finger drückten auf ihre Knochen, doch sie versuchte nicht, ihre Hand wegzuziehen. Der Schmerz war ihr willkommen, er nahm etwas von der Taubheit. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie hart das für sie gewesen ist. Für uns alle.«
Hart ist es, einen Mann zu lieben, den du niemals besitzen kannst , dachte Hannah. Hart ist es, jemanden darum zu bitten, dein Kind zu töten, und dann stillzuhalten, wenn er es tut . Aber so etwas konnte sie ihrem Vater nicht sagen, sie hatte ihn bereits genug verletzt. Stattdessen erkundigte sie sich nach Becca.
Mit einem Seufzer ließ er ihr Handgelenk los. »Sie lässt dir Grüße ausrichten. Sie vermisst dich.« Er hielt inne, dann sagte er: »Sie ist schwanger. Sie bekommt Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen.«
»Oh, wie schön!« Und für einen Augenblick wurde Hannah von reiner Freude durchflutet. Genauso musste sich Becca gefühlt haben, als sich ihre Hoffnung bestätigte. Hannah konnte sich bildhaft vorstellen, wie sie sich selbst umarmt hatte und vor Freude fast geplatzt war. Sie hätte sicher gern ihre Mutter angerufen, doch sie hatte bestimmt gewartet, bis Cole von der Arbeit kam, um es ihm zuerst zu erzählen, während ihr Gesicht vor Stolz leuchtete. Zusammen sind sie dann zum Haus der Paynes gegangen, um ihnen die Neuigkeit zu überbringen. Wie hatten ihre Eltern reagiert? Ihr Vater hatte vor lauter Freude mit offenem Mund dagestanden, und ihre Mutter hatte mit einem wissenden Lächeln reagiert, denn sie hatte es doch schon längst vermutet. Hannah hatte das alles vor Augen, sie sah die Hand ihrer Schwester
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