Die Geächteten
Sie fühlte sich gefühllos und innerlich leer. Leer bis auf einen ganz kleinen Hoffnungsschimmer. In ihrer Vorstellung legte sie beide Hände darum und folgte Marias Blick über den Rahmen des Bildes hinaus. Wenn es das ist, wozu du mich aufforderst, wenn das der Weg zu Dir zurück ist, dann werde ich ihn gehen .
Sie zog ihre Schuhe aus und ging zur Tür. Sie spürte die kalten Fliesen unter ihren Fußsohlen. Es gab keinen Griff. Sie legte ihre Handfläche auf das Holz und drückte, doch die Tür widerstand ihrer Kraft. Sie lehnte ihren ganzen Körper gegen die Tür und drückte mit allem, was sie aufbringen konnte. Mit einem knarrenden Geräusch bewegte sich die Tür, und Hannah stolperte und fiel hin.
»Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren.« Die Frauen sprachen gleichzeitig, und ihre Augen waren auf Hannah gerichtet.
Es waren ungefähr siebzig, und sie standen auf etwas, das aussah wie eine Empore für einen Chor. Sie waren nach Farben gruppiert: die Roten auf den unteren Rängen, die Orangefarbenen in der Mitte und die Gelben, die den anderen zahlenmäßig weit unterlegen waren, ganz oben. Die Wirkung war surreal, wie eine Schachtel mit Buntstiften, bei der die kalten Farben des Spektrums fehlten. Die Hälfte der Roten hielt Puppen, und eine aus dieser Gruppe – Hannah schaute ganz genau hin – war keine Verchromte. Die weiße Haut des Mädchens stach aus den anderen Farben deutlich hervor.
Mrs. Henley stand vor dem Podium und sah Hannah an. Zum Glück war Pastor Henley nicht im Raum.
»Was ist dieses Mädchen?«, fragte Mrs. Henley und zeigte auf Hannah.
»Eine Sünderin«, erwiderten die Frauen.
»Wie wird sie gerettet?«
»Wenn sie den geraden Weg geht.«
»Wer wird mit ihr gehen?«
»Wir.«
»Wer geht ihr voran?«
»Ich«, sagte eine einzelne Stimme aus der vorderen Reihe. Eine Rote, etwa zehn Jahre älter als Hannah, kam herunter und näherte sich ihr. Sie hielt ein gefaltetes braunes Kleid in der Hand. »Zieh dieses Kleid an.« Hannah nahm es dankbar an und streifte es über den Kopf. Mit ungeschickten Händen machte sie die Knöpfe des Mieders zu.
Als sie damit fertig war, sagte Mrs. Henley: »Was verlangt der Weg von uns?«
»Reue. Buße. Wahrheit und Demut«, antworteten die Frauen.
Zu Hannahs Linken flog eine Tür auf und Pastor Henley schritt rotwangig und überschwänglich in den Raum. »Wohin führt uns der Weg«, rief er aus.
»Zur Erlösung.«
Er sah Hannah an und breitete seine Hände zum Segen aus. »Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn er hat mir Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet.« Er wandte sich um und richtete sich an die anwesenden Frauen. »Wanderer, lasst uns beten.«
Hannah senkte wie alle anderen den Kopf, doch sie hörte weder seine Worte noch die routinierten Antworten der Frauen. Ihr Geist war vor Müdigkeit wie benebelt, ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich allein darauf, sich selbst aufrecht zu halten. Der Prediger betete endlose Minuten weiter. Schließlich schloss Pastor Henley mit »Amen« und entließ sie. Reihe um Reihe verließen die Frauen leise den Raum, durch die Tür, durch die der Pastor gekommen war. Nur Eve warf Hannah einen kurzen Blick zu. Sie war jedoch zu weit weg, als dass Hannah hätte sagen können, ob aus Sympathie oder Gehässigkeit.
Die Frau, die Hannah das Kleid gereicht hatte, blieb zusammen mit den Henleys zurück. »Hannah, das ist Bridget«, sagte Pastor Henley. »Geh mit ihr, sie wird dir den Weg zeigen.« Er machte eine Geste in Richtung Tür. Bridget wandte sich gehorsam um und ging auf die Tür zu, doch Hannah blieb zurück, unwillig, das Paar zu verlassen.
Mrs. Henley lächelte sie beruhigend an. »Geh schon.«
Hannah gehorchte und folgte Bridget zur Tür in Richtung Erlösung.
Ohne ein Wort zu sagen, führte Bridget Hannah zwei Treppen hinauf und dann durch einen unscheinbaren Korridor zu einer schwingenden Doppeltür. Sie betraten einen langen Raum, der an einer Seite von mehreren dieser hohen, schmalen Fenster erhellt wurde. Direkt unter ihnen war eine Inschrift zu lesen, die eine Endlosschleife um alle vier Wände bildete: REUE. BUSSE. WAHRHEIT UND DEMUT.
»Das ist der Schlafraum der Roten«, sagte Bridget knapp. In dem Zimmer befanden sich sechzehn ordentlich gemachte Einzelbetten, jedes flankiert von einem kleinen Nachttisch und einem weißen Krankenhaus-Vorhang, der von einer Schiene an
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