Die Geächteten
der Erleuchtung verbringen und nachmittags sinnvolle Arbeit leisten. Nach dem Abendgebet hast du zwei Stunden Zeit, um nachzudenken. Um zehn gehen die Lichter aus.«
»Und was ist mit den Wochenenden?«
»Am Samstagmorgen wirst du dich dem freien Bibelstudium widmen. Die Nachmittage kannst du verbringen, wie du möchtest. Die Sonntage sind für das Gebet da.« Bridget sah auf eine Uhr, die an der Wand hing. »Es ist jetzt siebzehn Uhr dreißig. Mach dich fertig, dann gehen wir gemeinsam zum Abendessen.«
Hannah schaute sehnsuchtsvoll auf ihr Bett. »Ich bin nicht hungrig«, sagte sie. »Ich bin so müde.«
»Mahlzeiten und Arbeiten fallen nicht aus, es sei denn, du bist ernsthaft krank.«
»Ich fühle mich ein wenig unwohl.«
»Falsche Leute dürfen in meinem Haus nicht bleiben, die Lügner gedeihen nicht bei mir«, sagte Bridget.
Hannah hatte noch nie im Leben jemanden geschlagen oder den Wunsch verspürt, dies zu tun, doch in diesem Augenblick zuckte ihre Hand in dem Verlangen, dem selbstgefälligen roten Gesicht dieser Frau einen Schlag zu verpassen.
»Ich bin in zwanzig Minuten zurück«, sagte Bridget. »Dann bist du fertig, Wanderin.«
Nachdem sie gegangen war, nahm sich Hannah aus dem Wandschrank, was sie brauchte, zog den Vorhang um ihr Bett und kleidete sich an. Die Gewänder waren fremdartig und einengend, und der Stoff grob. Doch nachdem sie Unterwäsche und Schuhe anhatte, fühlte sie sich schon ein bisschen besser und etwas weniger verletzlich.
Sie ging ins Badezimmer, um sich Gesicht und Hände zu waschen und das Haar hochzustecken. Das andere Mädchen war mit dem Boden fertig und putzte den großen Spiegel hinter den Waschbecken. Es gab Hannah rasch eine freundliche Einschätzung mit auf den Weg. »Lass dir von Fridget nicht auf der Nase herumtanzen«, sagte es. »Sie ist nur zornig, weil ihre Zeit fast um ist, schon in einem Monat wird man sie entlassen. Spinner mögen es hier ganz gern, weißt du.« Die Stimme des Mädchens war tief und besaß einen schönen Klang, so rund, wie es im tiefen Süden oft vorkam. »Nebenbei gesagt, ich heiße Kayla.«
Glücklich darüber, dass nicht alle so unfreundlich waren wie Bridget, stellte sich Hannah vor.
»Woher kommst du?«, fragte Kayla.
»Savannah. Wir sind nach Dallas gezogen, als ich acht war, aber ich habe es irgendwie geschafft, den Akzent zu behalten.«
»Wie lange bist du schon im Zentrum?«
»Fünfundzwanzig Tage, und ich muss dir sagen, das waren für mich die längsten dreieinhalb Wochen meines Lebens. Ich verschwinde hier so schnell wie möglich, sobald mein Freund mich abholt. Er sucht noch nach einem Ort, wo wir bleiben können.«
Die unschuldig dahingesprochenen Worte erinnerten Hannah auf grausame Weise daran, dass Aidan nicht kommen würde. »Dann ist es ihm egal … was du getan hast?«, platzte es aus ihr heraus. Sie schaute weg, beschämt über ihre eigene Grobheit. »Entschuldige, normalerweise bin ich nicht so.«
»Kein Grund, um Abbitte zu leisten«, sagte Kayla mit einer abweisenden Geste. »Es ist kein Geheimnis. Ich habe auf meinen Stiefvater geschossen.« Ihre Stimme und ihr Ausdruck waren so hartherzig, als würde sie darüber sprechen, wie sie eine Mücke zerdrückt hatte. »Meine Mama spricht nicht mehr mit mir, also kann ich nicht nach Hause.«
Beunruhigt machte Hannah unfreiwillig einen kleinen Schritt zurück. Wenn das Zentrum keine gewalttätigen Roten einließ, wieso war es dann Kayla erlaubt, hier zu sein? Gab es noch mehr Mädchen wie sie?
»Keine Angst«, sagte Kayla trocken, »ich schieße nicht auf eingeschüchterte kleine Äpfel wie dich.«
»Äpfel?«
»Du weißt schon, außen rot, innen weiß.« Sie grinste. »Ich habe es nicht böse gemeint.«
Da war etwas, das dieses Mädchen umgab, nicht unbedingt Unschuld – nein, Kayla war bestimmt nicht unschuldig –, doch eine Offenheit, fern von jeder Hinterlist, die Hannahs Unbehagen beruhigte. »Meine spricht auch nicht mehr mit mir«, sagte sie.
»Wirklich? Was hast du getan?«
Hannah hatte das Bild von ihrer Mutter im Gefängnis vor Augen, völlig aufgelöst und bestürzt. Ich habe jeden Wert verraten, den sie mich gelehrt hat. Ich habe Ehebruch mit einem Gottesmenschen begangen. Ich habe ihr ungeborenes Enkelkind umgebracht .
»Hey«, sagte Kayla, »was immer du getan hast, du musst es nicht erzählen.«
Das unerwartete Mitleid bewirkte, dass sich in Hannahs Kehle ein Knoten festsetzte, und ihr Rückgrat wurde steif. Wann war sie jemals so
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