Die Geächteten
flirtete mit ihr. »Aber für dich könnte ich eine Ausnahme machen.«
Hannah erwiderte seinen Blick, von diesem Jungen, mit dem sie sich hätte verabreden können, wenn sie hier studieren würde. Und dann sah sie sich in diesem Raum mit den Büchern um, all die Tausende und Abertausende von Büchern, die auf so viele Fragen eine Antwort bereithielten. Hier an diesem Ort wäre die Frage »Warum?« nicht anstößig oder sündhaft, hier könnte sie …
Ihr Port summte: eine Nachricht von ihrer Mutter, die sie daran erinnerte, dass sie um vier Uhr ihren Nähkreis hatte. Sie sah sich und die anderen Frauen gebeugt über ihren Nadeln sitzen, während sie über ein neues Lebkuchenrezept plauderten, das sie ausprobiert hatten, oder über ein Video, das sie am Abend zuvor angesehen hatten, oder darüber, wo man bei Terrassenmöbeln das größte Schnäppchen machen könne … und sie verglich im Geiste dieses Bild mit dem, was sie vor sich sah: Studenten, still über ihre Bücher gebeugt, Lippen, die sich bewegten, um sich Formeln oder die Systematik der Säugetiere oder die Namen antiker Könige zu merken. In ihren Gedanken waren sie beschäftigt mit Philosophie, Literatur, Quantenphysik, internationalem Recht. Sie kamen Hannah vor wie Bewohner eines anderen Landes, ein Land, in dem sie eine Fremde war und es auch immer bleiben würde.
»Danke«, sagte sie, »aber ich gehöre nicht hierher.« Sie verließ den Raum, das Gebäude, den Campus und ging zurück zum Bahnhof. Nicht ein einziges Mal sah sie zurück.
»Ich war gerade dabei, meinen Abschluss in Pädagogik zu machen«, sagte Kayla, die Hannah damit wieder in die Gegenwart zurückholte. »Ich hatte ein Stipendium an der Universität von Texas, das im September beginnen sollte, und dann passierte das.« Sie deutete auf ihr rotes Gesicht.
»Du hast viel verloren«, sagte Hannah.
»Ja. Aber was ist mit dir?«
»Ich bin nur eine Schneiderin. Besser, ich war es.«
»Das bist du noch«, insistierte Kayla. »Nur weil du eine Rote bist, heißt das nicht, dass du nichts anderes mehr bist.« Sie nahm Hannahs Haube und setzte sie ihr schwungvoll auf den Kopf. »Mensch, Mädchen, du siehst richtig gut aus. Jetzt brauchst du nur noch eine Scheuerbürste und wirst genauso sexy sein wie ich.«
Hannah versuchte Kaylas Lächeln zu erwidern, doch ihre Lippen waren wie zugefroren. Sie starrte auf ihr gebeuteltes Spiegelbild. Ein Alien schaute sie an.
»Nun komm«, sagte Kayla. »Mach schnell jetzt. Du schaffst das schon.«
»Und wenn nicht?«
Kayla und Hannah warfen sich einen Blick zu, wohl wissend, was die andere dachte. »Du musst, oder sie werden gewinnen.«
Sie hörten, wie sich Schritte näherten. »Da kommt Fridget«, sagte Kayla. »Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe.«
Bridget erschien in der Türöffnung. Sie begutachtete Hannah mit einem kalten, kritischen Blick. Schließlich nickte sie widerwillig. »Folge mir.«
»Ich bin hinter dir«, murmelte Kayla.
Unterwegs trafen sie auf andere Frauen, die nach Farben geordnet in Gruppen aus Türen und dem Treppenhaus strömten. Hannah hörte einige wenige geflüsterte Wortwechsel, doch die Mehrzahl der Frauen schwieg. Eine Gruppe von Roten mit Puppen betrat den Gang. Unter ihnen war auch das Mädchen mit dem blassen Gesicht.
»Warum ist sie nicht verchromt?«, fragte Hannah Bridget.
»Sie ist schwanger.«
»Ach so.« Da das Virus alle Hautzellen des Körpers, auch die des Ungeborenen, veränderte, wurden schwangere Frauen erst der Behandlung unterzogen, wenn sie ihr Kind zur Welt gebracht hatten. »Und was sollen die Puppen?«
»Das wirst du noch früh genug herausfinden«, antwortete Bridget.
Im Speisesaal zog Hannah viele neugierige Blicke auf sich. Die Demütigung, die sie empfand, war heftig – es war gerade mal eine Stunde her, da hatten sie diese Frauen nackt gesehen. Und so ging sie mit gesenktem Haupt und leicht gekrümmten Schultern, um nur ja niemanden ansehen zu müssen. Im Speisesaal gab es sechs lange Tische mit jeweils zwölf Plätzen. Drei Tische waren bereits voll besetzt. Bridget setzte sich an den vierten, der nur halb voll war. Hannah setzte sich neben sie, und Kayla nahm an Hannahs Seite Platz.
»Du setzt dich auf den ersten verfügbaren Platz«, sagte Bridget. »Du setzt dich nicht an einen leeren Tisch, bis nicht alle bereits besetzten Tische komplett voll sind. Du wirst für niemanden einen Platz frei halten.«
Hannah beobachtete die anderen Frauen, die den Raum betraten, und stellte
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