Die Geächteten
fest, dass das Sitzprocedere bei Weitem nicht so willkürlich war, wie Bridgets Anweisungen vermuten ließen. Beim Platznehmen gab es ein subtiles Manövrieren: Seitenblicke wurden getauscht, und hier und da zuckte eine als Wink mit dem Kopf. Es gab beabsichtigte Pausen, wenn Frauen auf eine Freundin warteten, bis diese sie eingeholt hatte, oder es vermeiden wollten, neben jemandem zu sitzen, den sie nicht mochten. Hannah sah, wie Eve stehen blieb, um ihren Schnürsenkel zuzubinden, bis die Gruppe der Gelben, mit denen sie den Speisesaal betreten hatte, sie überholt hatte, woraufhin sie sich an den nächsten Tisch setzte. So unbedeutend das auch sein mochte, angesichts dieser Rebellion und Kameradschaft fasste Hannah Mut.
Die Schwingtüren öffneten sich, und herein kamen verchromte Frauen, die Krüge mit Wasser sowie Schüsseln und Teller mit Essen hereinbrachten. »Du wirst jeden vierten Tag bei Tisch bedienen und andere zugeteilte Aufgaben am Nachmittag ausführen«, sagte Bridget. Sie deutete auf eine Pinnwand. »Der Arbeitsplan für die Woche wird jeden Montagmorgen aufgehängt.«
»Bleiben die Aufgaben gleich, oder wechseln sie?«
»Das kommt darauf an. Hast du eine ganz besondere Fertigkeit?« Bridgets Ausdruck war skeptisch.
»Ja, ich bin eine ausgezeichnete Schneiderin.«
»Wie begabt«, sagte Bridget mit einem unangenehmen kleinen Lächeln. Bevor Hannah sie fragen konnte, was sie damit meine, sagte Bridget: »Mrs. Henley will dich am Samstag zum Tee in ihren Salon einladen. Du wirst sie dann über deine Fähigkeiten informieren. Du wirst es aber unterlassen, dein Können aufzubauschen.«
»Leck mich doch an meinem süßen roten Arsch«, flüsterte Kayla.
Hannahs Lippen zuckten vor Vergnügen. Bridget lehnte sich vor, um einen Blick auf Hannah und Kayla zu werfen. »Hast du was gesagt, Wanderin?«
»Das habe ich, Wanderin«, antwortete Kayla. Ihr Gesicht spiegelte grundehrliche Frömmigkeit wider. »Ich habe Jesus darum gebeten, über uns alle, die diesen Weg gehen, zu wachen.«
Hannah schlug die Hände vor sich zusammen und neigte den Kopf. »Ja, Herr, bitte behüte uns und wache über uns, besonders über die Wanderin Bridget, die uns bald verlassen und wieder in die Welt da draußen zurückkehren wird.«
»Amen«, sagte Kayla, worauf ein leises Echo anderer Stimmen zu vernehmen war.
Hannah blickte auf und stellte fest, dass Bridget sie argwöhnisch betrachtete, während viele der anderen Frauen feixten. Bridget ließ den Blick über den Tisch wandern. Das schwangere Mädchen, das mit ihrer Puppe im Schoß am anderen Ende saß, war zu langsam, um ihr Lächeln mit der Hand zu verdecken, und Bridget fixierte es mit einem mörderischen Blick. Das Mädchen wurde gerettet – für den Augenblick zumindest –, denn die Henleys betraten den Speisesaal. Im Raum herrschte absolutes Schweigen, als sie die letzten beiden freien Plätze am letzten Tisch einnahmen. Pastor Henley hielt seiner Frau den Stuhl, bis diese es sich bequem gemacht hatte, dann begann er ein langes, abschweifendes Dankgebet zu sprechen. Endlich war er fertig und nahm Platz, und die Frauen reichten sich gegenseitig das Essen. Ein gedämpftes Stimmengewirr erhob sich. Hannah fühlte sich befreit; sie hatte Angst davor gehabt, dass die Mahlzeiten in absoluter Stille stattfinden würden.
Das Essen war einfach – ein Tofu-Makkaroni-Auflauf mit grünen Bohnen –, doch dazu gab es selbst gebackene Brötchen mit richtiger Butter. Der vertraute Geschmack von Hefe war himmlisch, und Hannah verspürte nach all dem, was sie erlebt hatte, großen Hunger. »Du nimmst dir nicht mehr als deine faire Portion«, sagte Bridget, und als der Teller wieder Hannah erreichte, wusste sie, warum: Es war gerade genug für alle zwölf da, und das auch nur, wenn sich jeder nur bescheidene Portionen nahm. Sie bediente sich und reichte den Teller an Kayla weiter. Als der Teller bei dem schwangeren Mädchen ankam, nahm dieses zweimal so viel wie alle anderen. Hannah bemerkte einige wenige verärgerte Blicke, doch niemand erhob Einwand.
»Schwangere Frauen bekommen die doppelte Portion«, sagte Kayla leise. »Niemand sitzt gern an Megans Tisch.«
Kayla stellte Hannah der Frau vor, die in ihrer Nähe saß, doch nach dem anfänglichen »Schön, dich kennenzulernen« sagte Hannah nicht mehr viel. Sie hörte den anderen zu, die sich leise unterhielten, die meisten erzählten sich Neuigkeiten von zu Hause. Die Briefe von Ehemännern und Freunden schienen hier eine
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