Die Geächteten
ein leerer Stuhl. Als Hannah das sah, ergriff sie eine nervöse Unruhe, ein Gefühl, das sich verstärkte, als sie die bizarre Szene vor sich wahrnahm. Eine Frau wiegte ihre Puppe in den Armen und summte ihr etwas vor, eine andere schaukelte ihre Puppe auf den Knien, eine dritte hielt ihre Puppe mit dem Gesicht gegen ihre Schulter und tätschelte ihren Rücken, als wollte sie ihr helfen aufzustoßen.
Hannah hielt sich am Türpfosten fest. Lieber Gott. Hilf mir !
»Komm rein, Wanderin«, sagte der Erleuchter mit strenger, autoritärer Stimme, »und schließ die Tür.« Hannah verspürte den Drang zu flüchten, doch sie gehorchte ihm.
Der Erleuchter zeigte auf den Stuhl. »Setz dich dorthin.« Irgendwie trugen ihre Beine sie zu dem Stuhl. Er schwankte, als sie Platz nahm. Mit seinem Finger malte der Erleuchter einen Bogen in die Luft und sagte: »Schau zu ihnen, Wanderin. Denn wenn du zu ihnen schaust, wirfst du einen Blick auf deine Sünde.«
Hannah ließ ihren Blick langsam im Uhrzeigersinn über die Puppen schweifen. Sie waren alle lebensgroß – so groß wie Kinder –, doch ansonsten unterschieden sie sich. Einige waren plump, hatten Knöpfe als Augen, Zwirn als Haar und abscheuliche rote Münder, die im Kreuzstich gemacht worden waren. Andere dagegen waren besser gearbeitet. Zwei waren braun, der Rest hatte die Farbe eines blassen Aprikot.
Das einzige Geräusch in diesem Raum war das unheimliche, hell klingende Summen der Frau, die ihre Puppe wiegte. Sie begann ihr etwas vorzusingen, wobei sie unterschiedliche Teile berührte: » Hier ist mein KOPF und hier meine NASE. Hier sind meine FINGER und hier meine ZEHEN. Hier ist mein BÄUCHLEIN, und hier sind meine KNIE. Danke, Gott, dass ich gemacht wurde. Hier ist mein …« Plötzlich hörte die Frau mit dem Gesang auf und schüttelte ihre Puppe. Dann sagte sie: »Pst, pst! Nicht weinen, Baby, bitte weine nicht. Mama ist doch bei dir. Ich bin bei dir.«
Hannah wandte sich ab, um das nicht weiter ansehen zu müssen, doch das irre Gespräch mit dem Baby ging weiter, immer weiter. Der Erleuchter achtete nicht darauf, seine Aufmerksamkeit galt jetzt Hannah. Seine Augen standen in Flammen, sie zeigten eine Emotion, die Hannah nicht benennen konnte. Was auch immer es war, es ging ihr unter die Haut. Sie sah die Frau an, die rechts neben ihm saß. Sie war offensichtlich älter als alle anderen in der Gruppe – und viel zu alt, um schwanger zu werden. Die Frau schaute sie mit müdem Mitleid an.
»Sonia, warum fängst du nicht an?«, sagte der Erleuchter zu ihr. Er lehnte sich in seinem Stuhl nach vorn und legte die Fingerspitzen aufeinander, als wollte er einen Kirchturm andeuten.
Die ältere Frau hielt ihre Puppe hoch und zeigte sie Hannah und den anderen. »Das ist mein Sohn Octavio«, sagte sie mit spanischem Akzent. »Er wäre mein achtes Kind geworden, doch ich habe ihn gegen den Befehl Gottes und entgegen dem Wunsch meines Mannes getötet.« Sie drehte die Puppe zu sich um und sprach sie an. »Vergib mir Octavio, dass ich dir dein kostbares Leben genommen habe.«
Jetzt sprach die Frau rechts neben ihr. »Dies hier ist mein kleiner Sohn Matthew. Ich habe ihn umgebracht, weil ich dem Herrn nicht vertraut habe, dass er für uns sorgen würde, nachdem sein Vater uns verlassen hat. Vergib mir, Matthew, dass ich dir dein kostbares Leben genommen habe.«
»Das ist mein kleines Mädchen Aisha. Ihr Vater hat mich vergewaltigt, doch das war nicht ihr Fehler. Sie war unschuldig, und ich habe sie getötet. Vergib mir, Aisha.«
Megan hielt ihre derbe Puppe hoch. »Das ist mein ungeborenes Baby John Wyatt oder Gemma Dawn, das hängt davon ab, ob es ein Junge oder Mädchen wird. Ich habe versucht, es zu töten, doch Gott schritt ein, und die Pille wirkte nicht.« Ihr Ton war missmutig. Keine Reue , dachte Hannah.
» Er oder sie , Megan, nicht es «, sagte der Erleuchter missbilligend.
»Ich habe versucht, ihn zu töten«, sagte Megan, »doch Gott hat ihn gerettet. Es tut mir leid, Baby.« Die letzten Worte richtete sie an ihren leicht gerundeten Bauch. Hannah schätzte, dass sie im fünften Monat war.
Der deprimierende Kreis ging weiter, und Hannah befand sich mittendrin als sein Angelpunkt, bis alle Frauen gebeichtet und um Vergebung gebeten hatten – bis auf die Verrückte, die scheinbar überhaupt nicht mehr mitbekam, was um sie herum vorging. Schließlich sprach der Erleuchter Hannah an.
»Und du, Wanderin? Weshalb bist du hier?«
Sie antwortete, ohne
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