Die Geächteten
neugierig auf Hannahs Puppe. »Wie viel Zeit wirst du noch brauchen?«
»Ich hoffe, morgen Nachmittag fertig zu sein«, sagte Hannah. Und sie fügte hinzu: »Der Erleuchter hat gesagt, ich könne mir so viel Zeit lassen, wie ich bräuchte.«
Mrs. Henleys blaue Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Du versuchst auf diese Art doch nicht, dich der Erleuchtung zu entziehen? Denn das wäre ein sehr schwerwiegender Schritt vom geraden Weg ab.«
»Nein, Mrs. Henley.«
»Lass mich sehen.« Mrs. Henley streckte gebieterisch die Hand aus.
Mit einer merkwürdigen Abneigung reichte Hannah ihr die Puppe. Sie schaute sie sich schweigend an. »Gut, Hannah«, sagte sie schließlich, »das ist eine ausgezeichnete Arbeit. Sehr fein. Du musst sehr stolz auf dich sein.«
Hannah erkannte die Falle und senkte den Kopf. »Nein, Mrs. Henley. Ich wollte sie nur so gut machen, wie ich kann. Damit … damit dem Baby Gerechtigkeit widerfährt.«
Mrs. Henley gab ihr die Puppe zurück. »Pass auf, Wanderin, dass du deine Buße nicht zu sehr genießt.«
Hannah war am späten Freitagnachmittag kurz vorm Abendbrot fertig. Sie prüfte die Puppe ein allerletztes Mal, schaute nach, ob sie irgendwelche Mängel entdeckte. Doch sie konnte nichts finden. Eine perfekte Arbeit. Sie verließ das Nähzimmer mit erhobenem Kopf, während sie die Puppe vor sich trug. Die Frauen, denen sie unterwegs begegnete, sahen sie erstaunt an. Als sie den Speisesaal betrat, erhob sich ein kollektives Gemurmel der Verwunderung, schlug in ihrem Kielwasser eine Welle durch den Raum und mündete in absolute Stille, als sie Platz nahm. Die Puppe war so aufwendig und fein gearbeitet – die Augen funkelten unter den unglaublich zarten Wimpern, der Mund war eine zarte rosafarbene Rosenknospe, die süßen, fülligen Finger und Zehen besaßen kleine halbmondförmige Nägel –, dass sie zu schlafen schien. Doch es war nicht der Gegenstand, der die Aufmerksamkeit der Frauen auf sich zog, es war Hannah selbst. Ihre Schöpfung hatte sie verändert und ihre Verzweiflung vertrieben. Sie fühlte sich wieder so lebendig wie in der Zeit vor ihrer Inhaftierung, und die Augen der anderen Frauen spiegelten dieses Gefühl wider.
Die Frauen waren so gefesselt, dass sie es gar nicht bemerkten, als die Henleys in ihrer gewohnt majestätischen Art den Speisesaal betraten. Nur Hannah fiel es auf. Ponder Henley sah verwirrt aus, wie ein Mann, der auf die Bühne gekommen war, um feststellen zu müssen, dass die Zuschauer ganz woanders hinsahen. Mrs. Henley jedoch war ganz offensichtlich verärgert, vor allem, als sie entdeckte, was die anderen Frauen so faszinierte. Der Blick, den sie Hannah zuwarf, sprühte Gift und Galle.
Hannah hob das Kinn und begegnete dem starren Blick von Mrs. Henley völlig ruhig. Sie wollte sich nicht schon wieder von ihr einschüchtern lassen.
Nach dem Abendgottesdienst hielt Hannah nach Kayla Ausschau. Sie gingen in das Nähzimmer. Hannah wusste, dass es um diese späte Uhrzeit leer sein würde. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, zeigte Kayla auf Hannahs Puppe und sagte: »Nur eine Schneiderin, hä? Wie Jesus nur ein Zimmermann war.«
Hannah zuckte leicht beschämt zusammen. Ihr Trotz hatte sich in Luft aufgelöst, sie war nur noch müde und ängstlich, wenn sie an das Treffen mit Mrs. Henley am nächsten Tag dachte.
»Ich glaube, die Mrs. hatte einen Wutanfall«, fuhr Kayla fort. »Und hast du das Gesicht von Fridget gesehen? Sie sah aus, als hätte sie sich an einem riesigen Krug Sauermilch verschluckt.«
Hannah machte ein missmutiges Gesicht.
»Wie geht es denn sonst mit ihr?«, fragte Kayla.
»Nicht gut. Wir hatten neulich Abend einen Streit, und ich bin wütend geworden. Danach hat sie Mrs. Henley erzählt, dass ich sie absichtlich berührt hätte.
»Hast du?«
»Alles, was ich getan habe, war, ihre Hand zu greifen. Ich wusste nicht, dass das gegen die Regeln verstößt.«
»Lass mich raten, sie hat es dir nicht erzählt.«
»Nein. Warum ist es denn überhaupt verboten?«
»Sie begründen es damit, dass wir uns auf das Spirituelle konzentrieren sollen und nicht auf das Körperliche, doch ich glaube, sie haben diese Regel aufgestellt, damit wir uns noch mehr als Ausgestoßene fühlen. Und vielleicht haben sie auch Angst davor, dass ihr Zentrum sich zu einer Hochburg für Baby-Lesben entwickelt.«
Hannah starrte Kayla an. Sie hatte doch nicht geglaubt, dass …
»Du weißt schon, angehende Lesben.«
Flüsternd sagte Hannah: »Ich bin
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