Die Geächteten
wäre«, fuhr Mrs. Henley fort, »hat sie dann das Baby einer anderen Frau getötet …«
»Mit Absicht?«
»Nein, es war ein Unfall. Doch sie hat ihn selbst verursacht.«
Also deshalb hasst Bridget mich, dachte Hannah. Weil ich es vorsätzlich getan habe.
»Bist du wirklich sicher, dass sie diese Regel nicht erwähnt hat?« Mrs. Henleys Mund öffnete sich, und man konnte ihre rosa Zunge und die weißen Spitzen ihrer Schneidezähne sehen.
Hannah sagte sich, dass Bridget es verdient habe. Wenn sie bliebe, würde sie Hannahs Leben nur unerträglich machen. Unabhängig davon müsste sie das Zentrum sowieso in einem Monat verlassen. Und dann erinnerte sich Hannah an den Satz, den Bridget geäußert hatte – »Das ist nichts verglichen mit dem, was dich draußen erwartet, wenn du ganz allein bist« –, und sie sah wieder diesen Schrecken in ihren Augen, als sie das gesagt hatte. Hannah hatte zumindest einen Vater, der ihr helfen würde. Wenn Bridget entlassen würde, wäre sie ganz auf sich allein gestellt.
»Möglicherweise habe ich es vergessen«, sagte sie, die Augen niedergeschlagen. »Ich war gestern Abend fürchterlich aufgeregt.«
Mrs. Henley war die Freundlichkeit in Person. »Natürlich warst du das. Es muss ein langer Tag für dich gewesen sein. Doch Müdigkeit und Vergesslichkeit sind keine Entschuldigungen für Nichtgehorsam. Ich bin sicher, dass Moses müde war, als er vom Berg Sinai kam, aber er hat nicht eines von Gottes Geboten vergessen, oder?«
»Nein, Mrs. Henley.«
Mrs. Henley schüttelte betrübt den Kopf. »Und das gilt auch für deinen ersten Tag. Nur einige wenige Stunden, nachdem du dein feierliches Wort gegeben hast, alle Regeln zu befolgen.«
»Es tut mir leid, Mrs. Henley.«
»Du hast mich sehr enttäuscht, Hannah, und ich weiß, dass Pastor Henley es ebenfalls sein wird. Ihn nimmt so etwas sehr mit.«
Als Hannah in die sorgenvollen blauen Augen von Mrs. Henley blickte, wurde sie von Schuldgefühlen überwältigt. Wenn auch nicht wegen des Regelbruchs, dessen sie angeklagt war, so doch wegen ihrer schlechten Absichten, wegen eines Mangels an Geist. Sie hatte so viele Menschen enttäuscht: Familie und Freunde, Arbeitgeber, Aidan. Und nun die Henleys, die freundlich genug gewesen waren, sie aufzunehmen und ihr diese Chance der Wiedergutmachung anzubieten. Eine Chance, derer sie sich als unwürdig erwies.
»Und natürlich müssen wir darüber deinen Eltern und Minister Dale Bericht erstatten«, sagte Mrs. Henley.
Hannah spürte Panik in sich aufsteigen. Sie mussten das nicht wissen, sie mussten sich nicht noch mehr schämen, als sie es ohnehin schon taten. Sie stammelte, sie flehte: »Es tut mir so leid, Mrs. Henley, bitte erzählen Sie ihnen nichts davon, ich werde mich bessern, ich verspreche es, ich …«
Mrs. Henley unterbrach sie mit den Worten: »Es ist gut, dass es dir leidtut, Hannah. Reue ist das Erste, was der Weg uns abverlangt. Ich bitte dich, darüber nachzudenken, was du getan hast, und zu beten. Wir werden am Samstag weitersprechen, wenn wir unser Gespräch haben.« Hannah wollte noch mehr sagen, doch Mrs. Henley hob ihre kleine blasse Hand.
»Nun geh und fang mit deiner Erleuchtung an.«
Hannah verließ den Speisesaal und sackte, kaum dass sie draußen war, an einer Wand zusammen. Ihr Herz schlug wie wild, und sie musste sich erst einmal beruhigen. Ihre Gedanken waren wirr und durcheinander. Was genau war ihr gerade eben zugestoßen? Wer war diese kriechende Kreatur gewesen? Als sie langsam zur Ruhe kam, fiel ihr der Grund wieder ein – und mit ihm kehrte auch die Wut zurück. Mrs. Henley hatte ihre Unterhaltung genossen, dessen war sich Hannah sicher. Die Frau hatte mit ihr gespielt wie auf einer Harfe, und Hannah hatte bereitwillig jeden Ton erklingen lassen, den Mrs. Henley hatte hören wollen. Pastor Henley mochte ein netter Mann sein, daran interessiert, anderen Menschen zu helfen, den Weg zu Gott zu finden, doch seine Ehefrau war ganz anders.
Die Stille des Flures erinnerte Hannah daran, dass sie zu spät zur Erleuchtung kommen würde. Rasch lief sie zu dem Raum, den Bridget ihr am Abend zuvor gezeigt hatte. Die Tür war offen, und auf der Schwelle hielt sie inne. Acht Frauen, alle rot bis auf Megan, alle mit Puppen in den Händen, saßen in einem Kreis auf Stühlen. Bei ihnen war ein großer, knochiger Mann in den Vierzigern mit einem glatt rasierten Kopf und einem autoritären Ausdruck – wahrscheinlich der Erleuchter. In der Mitte des Kreises stand
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