Die Geächteten
sicher, dass keine hier je so etwas tun würde.«
»Das sagst du jetzt, doch sprich noch einmal in fünf Wochen mit mir darüber. Manchmal vermisse ich TJ so sehr, dass selbst Fridget sexy aussieht.« Hannahs Unbehagen war deutlich zu spüren, und Kayla lachte und sagte: »Entspann dich, du bist nicht mein Typ.«
Hannah wechselte das Thema. »Mrs. Henley hat mir erzählt, dass Fridget ein Kind getötet hat. Weißt du, wie es passiert ist?«
»Trunkenheit am Steuer. Sie hat eine schwangere Frau angefahren, die über die Straße ging. Die Frau hat überlebt, aber von der Hüfte abwärts ist sie gelähmt, und sie hat ihr Baby verloren. Es war überall im Video zu sehen.«
»Wie kann man jeden Tag damit leben?«, fragte Hannah reflexartig. In dem Moment, als sie das sagte, dachte sie auch schon: Doch ich lebe damit, irgendwie.
»Ach, Fridget kommt ganz gut damit zurecht«, sagte Kayla. »Wir sind zusammen in der Erleuchtung, weißt du. Sie verhält sich demütig und macht auf traurig, aber das ist nur Show. Die Frau ist wie ein Eisberg.«
Hannah wusste, dass Kayla unrecht hatte. Die Show, das war der Eisberg, eine Barrikade, die Bridget errichtet hatte, um sich vor dem zu schützen, was sie getan hatte. Denn würde sie die Sache an sich heranlassen, würde sie das zerstören. Das war von Hannahs Seite keine Intuition, vielmehr etwas, dessen sie sich ganz sicher war, etwas, das sie in ihren Knochen spürte, genauso, wie sie gewusst hatte, dass Mrs. Henley Spaß an ihrer Not hatte. Sie war stets eine recht gute Menschenkennerin gewesen, doch niemals in diesem Ausmaß. Woher kam diese neue Fähigkeit? Hannah schüttelte den Kopf, als eine zweite Frage sich in ihrem Kopf breitmachte, die sie beunruhigte: Was hatte es zu bedeuten, dass sie im Gegensatz zu Bridget mit dem leben konnte, was sie getan hatte? Womöglich war Brigdet ein besserer Mensch als sie.
»Wie auch immer«, sagte Kayla, »in einigen Tagen solltest du von ihr befreit sein. Normalerweise hört diese Betreuung nach einer Woche auf, wenn auch nicht immer. Das hängt von der Mrs. ab.«
»Warum von ihr und nicht von Pastor Henley?«
Kayla prustete los. »Er mag vielleicht den Titel des Direktors haben, aber mach keinen Fehler, denn sie ist die Herrin im Haus. Der Mann verlässt sein Studierzimmer meist nur zum Essen und zum Predigen. Da hockt er tagelang in seinem Zimmer und schreibt an seinen endlosen Reden. Ich glaube, Mrs. Henley ist ganz froh, dass er ihr nicht im Weg ist.«
»Ich soll morgen Nachmittag zum Tee zu ihr kommen. Ich möchte dich dazu etwas fragen.«
Kayla versteifte sich und wandte den Blick von Hannah ab. »Was denn?«
»Was erwartet mich? Worüber hat sie mit dir geredet?«
»Wir dürfen darüber nicht sprechen.«
»Ich werde nichts sagen. Das verspreche ich«, sagte Hannah.
»Ich kann nicht. Wenn sie es herausfindet …«
»Wie soll sie es herausfinden? Ich werde sicher nichts sagen.«
»Ich kann nicht, Hannah«, sagte Kayla kurz angebunden. »Es tut mir leid. Wir gehen jetzt besser wieder zurück.«
Schweigend gingen sie in den Schlafsaal. Als sie an der Tür zu Mrs. Henleys Salon vorbeikamen, sah Hannah, wie Kayla zusammenzuckte.
HANNAH WAR RUHELOS UND UNFÄHIG, SICH IN DER BIBELSTUNDE am nächsten Morgen zu konzentrieren. Nach dem Mittagessen ging sie in den Leseraum und kämpfte sich durch das Material, um die Zeit bis drei Uhr totzuschlagen. Neben den Titeln Darwin, der Betrüger und Eine Krone für Ihren Ehemann: 365 Andachten für die tugendhafte Ehefrau entdeckte sie dort auch ein altes Buch von Aidan: Ein sinnvolles Leben. Ein Leben mit Christus . Er hatte es veröffentlicht, als er noch ein junger Pastor ihrer Gemeinde gewesen war. Das Foto von ihm auf der Rückseite des Buches stammte vom Tag, als er das Priesterseminar bestanden hatte. Sein strahlendes Gesicht wirkte glücklich und strahlte Zuversicht aus. Innerlich abgestumpft starrte Hannah darauf. Sie dachte an die wenigen Male zurück, wo sie sein Gesicht so gesehen hatte. Das war meist nur dann der Fall gewesen, wenn er Zeit bei den Kindern im Heim verbracht hatte. Nur ein einziges Mal hatte er mit ihr zusammen so glücklich und losgelöst gewirkt.
Er hatte sie gefragt, ob sie sich am Sonntag in einem ihrer üblichen Hotels treffen könnten, allerdings zu der ungewöhnlichen Uhrzeit von sieben Uhr morgens. Es war Ende Oktober. Am Abend zuvor war eine der seltenen Kaltfronten hereingebrochen, und die Temperatur war merklich gefallen. Hannah fuhr mit dem
Weitere Kostenlose Bücher