Die Geächteten
Stickereien verzierte Vorhänge, dünn genug, um Licht hereinzulassen, doch zu undurchsichtig, um nach draußen sehen zu können. Sie verspürte den Wunsch, sie anzufassen, um einen Blick in die Welt hinter diesen Wänden werfen zu können.
»Magst du meine neuen Vorhänge?«, fragte Mrs. Henley. »Ich habe sie selbst gemacht.« Sie saß mit dem Rücken zum Fenster in einem bequemen Sessel. Auf dem Tisch vor ihr standen ein Tablett mit einer Teekanne, zwei Porzellantassen und ein Teller mit Keksen.
»Sie sind wunderschön.«
»Danke. Wenn eine Schneiderin mit deinen Talenten das sagt, betrachte ich es als Kompliment.« Mrs. Henley runzelte die Stirn. »Aber wo ist deine wunderschöne Puppe? Du weißt doch, dass du sie stets bei dir tragen sollst.«
Hannah hörte die Alarmglocken läuten. In ihrem verwirrten Zustand hatte sie die Puppe im Lesezimmer vergessen. »Ich habe sie vergessen. Ich kann schnell zurücklaufen und sie holen, wenn Sie möchten.«
Mrs. Henley betrachtete sie einen Moment, dann entspannten sich ihre Züge. »Gut«, sagte sie, »wir können dieses Mal darüber hinwegsehen.«
Hannah atmete erleichtert aus, und Mrs. Henley lächelte. »Du meine Güte, wo habe ich nur meine Manieren gelassen!« Sie zeigte auf das Sofa gegenüber. »Bitte setz dich. Möchtest du eine Tasse Tee?«
»Ja, danke.«
Die Wand vor Hannah war mit einer großen Sammlung von Bildern bedeckt, meist Amateurkunst. Zusätzlich zu den gestickten, geschnitzten, gemalten und gequilteten Versionen des allgegenwärtigen REUE. BUSSE. WAHRHEIT UND DEMUT hingen dort auch einige Zeichnungen von Jesus, Bibelszenen als Aquarellmalerei, Kränze, die aus Zweigen und getrockneten Rosen gebunden waren, geschnitzte Holzkreuze und andere selbst gemachte Dinge.
»Sind sie nicht süß?«, fragte Mrs. Henley. »Das sind alles Dinge, die die Mädchen mir und meinem Mann in den letzten Jahren geschenkt haben. Es hat uns immer demütig gemacht zu wissen, dass wir das Leben einer Wanderin so tief berührt haben.«
Sie goss den Tee ein. Hannahs Hand zitterte, als sie die Tasse nahm, und sie klapperte gegen die Untertasse. »Es gibt keinen Grund, nervös zu sein, Hannah«, sagte Mrs. Henley. »Wir führen hier nur ein lockeres Gespräch, damit wir beide uns besser kennenlernen können. Möchtest du einen Keks? Ich habe sie heute Morgen gebacken.«
Hannah nahm einen Keks. Ihr Mund war so trocken, dass sie fast daran erstickte. Sie musste husten und spülte den Keks mit Tee hinunter. Als sie sich erholt hatte, fragte Mrs. Henley: »Du hast den Beruf der Schneiderin gelernt?«
»Ja, Mrs. Henley.«
»Welche Arbeit hast du genau gemacht?«
»Meist Hochzeitskleider. Ich habe für ein Geschäft in Plano genäht.«
»Ach, was für ein Jammer! Ich gehe nicht davon aus, dass sie dich wieder einstellen werden. Nach all dem, was passiert ist, welche Braut möchte schon, dass ihr Kleid von …« Mrs. Henley hielt inne, als sie sich bewusst wurde, dass sie unhöflich gewesen war. Mit gekünstelter Heiterkeit fuhr sie fort: »Vielleicht kannst du eine Arbeit in einer Fabrik bekommen oder irgendwo, wo man dem nicht so viel Bedeutung beimisst.«
»Ja, vielleicht ist das möglich.« Hannah warf ihrem Gegenüber ein unscheinbares, höfliches Halblächeln zu, versuchte sich zu beruhigen und wappnete sich innerlich mit Verteidigungsstrategien.
Mrs. Henley stellte ihre Teetasse ab und lehnte sich vor, während sie ihre Beine an den Knöcheln kreuzte.
Los geht’s , dachte Hannah.
»Wann hattest du deine Abtreibung?«
»Im Juni.«
»Und im wievielten Monat warst du?
»Im dritten.«
»So, das heißt also, dass du irgendwann im März schwanger geworden bist. Kannst du genau sagen, bei welcher Gelegenheit es passiert ist?«
Hannah schloss die Augen und erinnerte sich: das Hotel in Grand Prairie. Sie waren seit sechs Wochen nicht zusammen gewesen, und sie waren außer sich, verzweifelt.
»Hannah? Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Ja.«
»Wusste er, dass du abtreiben willst?«
»Nein.«
»Das verletzt seine Rechte als Vater. Du kannst dich glücklich schätzen, dass er dich nicht angezeigt hat.«
Hannah nickte, traute sich aber nicht zu sprechen. Sie spürte, wie ihr Puls schneller schlug und unregelmäßig wurde.
»Natürlich«, sagte Mrs. Henley. »Hätte er Anzeige erstattet, wäre seine Identität bekannt geworden. Und wenn du das Baby behalten hättest, wärst du gezwungen gewesen, seinen Namen zu nennen.« Sie blinzelte leicht und
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