Die Geächteten
und sah auf das Bild mit Maria Magdalena, ihre Schwester in der Sünde, die nur mit ihrem eigenen Haar bekleidet war.
»Wünsch mir Glück«, flüsterte Hannah.
Sie ging hinaus, in einen kalten, nieseligen Dezembertag. Hinter ihr ging die Tür zu, und sie hörte, wie sie ins Schloss fiel – der Klang eines exquisiten Finales. Sie hob den Kopf zum Himmel, genoss die anregende Luft und den feinen Regen, der ihre Haut streichelte . Ich bin frei , dachte sie, auch wenn sie wusste, dass dieser Gedanke absurd war, sie war alles andere als frei. Sie war in diesem abscheulichen roten Körper gefangen, und es war ihr untersagt, Texas zu verlassen. Wo auch immer sie hinging, sie blieb eine Zielscheibe. Trotzdem empfand sie eine Art Hochgefühl. Sie fragte sich, ob Kayla an diesem Morgen auch hier gestanden und so empfunden hatte. Hatte sie dasselbe absurde Gefühl von Freiheit erlebt? Der Gedanke an Kayla ermutigte Hannah. Sie würde zu Becca gehen – Cole würde sicher noch einige Stunden bei der Arbeit sein – und Kayla von dort aus anrufen. Wenn sie TJ gefunden hätte, würden die beiden ihr sicher helfen. Wenn nicht, würden sie und Kayla irgendeinen Plan entwickeln.
Hannah griff in die Tasche ihres Kleides, um den Zettel mit Kaylas Nummer herauszuziehen. Erst als ihre Hand leer wieder herauskam, registrierte sie, dass sie das Kleid nicht mehr trug, dass es auf dem Boden im Foyer lag. Sie hatte sich die Nummer nicht gemerkt, sie hatte gar keine Zeit gehabt. Sie wusste nicht einmal Kaylas Nachnamen.
Hannah wirbelte herum, um den Griff der Tür zu ergreifen. Doch sie wusste, noch bevor sie daran zog, dass diese hinter ihr verschlossen worden war.
III. Der magische Kreis
AUF DEM LANGEN, NASSEN WEG ZU BECCA schwand Hannahs Überschwänglichkeit dahin und löste sich schließlich ganz in Luft auf. Weibliche Rote waren selten, deshalb wurde sie zum Ziel für Neugierige. Aus Autos und Geschäften gafften die Menschen sie an. Ein älteres Paar ging auf die andere Straßenseite, als es sie sah. Ein Junge auf dem Rad starrte sie so gebannt an, dass er fast mit einem Bus zusammengestoßen wäre. »Pass auf«, schrie sie, doch der Klang ihrer Stimme verlor sich im lauten Hupen. Der Radfahrer wich in letzter Sekunde aus, und der Bus verfehlte ihn nur knapp. Der Junge knallte in ein geparktes Auto und landete auf dem Gehsteig.
»Verdammtes rotes Miststück«, brüllte er. Mit rasendem Puls beschleunigte sie ihre Schritte. Das Nieseln ging in einen beständigen Regen über. Binnen Kurzem waren Bluse und Rock durchnässt, und ihr Haar klebte als kalte, nasse Masse an ihrem Rücken. Ihre Füße machten in den dünnen flachen Schuhen bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch.
Jemand pfiff laut. »He, Rote, willst du mitfahren?« Hannah drehte sich um und sah ein Auto neben sich. Ein Jugendlicher im späten Teenageralter lehnte sich aus dem Beifahrerfenster und grinste sie anzüglich an. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, nachdem sie sich bewusst geworden war, wie sehr ihre nasse Kleidung ihren Körper zur Schau stellte. »Wetten, du bist seit Langem nicht mehr bestiegen worden«, sagte er.
»Ein saftiges Ding wie du muss regelmäßig ausgepresst werden«, rief sein Kumpel am Steuer.
»Süße, ich lass den Saft aus dir rauslaufen.«
Hannah beachtete sie nicht und starrte geradeaus. Sie versuchte, ihre Angst nicht zu zeigen. Sie war sich bewusst, dass niemand sie aufhalten würde, sollten sie versuchen, sie ins Auto zu ziehen. Sie könnten sie überall nehmen, alles mit ihr machen.
»Nun komm schon, ich hatte noch nie eine Rote, aber ich mochte schon immer blutiges Fleisch.«
»Komm, Baby, mit dir in der Mitte und uns an jeder Seite geben wir ein schönes Sandwich mit Rindfleisch ab.«
Sie wollte am liebsten rennen, doch sie wusste instinktiv, das würde sie zur Beute machen. Also ging sie entschlossen weiter. Endlich verloren sie die Lust an ihr und fuhren weiter.
Auf halbem Weg zu Becca verdunkelte sich der Himmel, um sich dann zu öffnen und eine wahre Flut von Wasser freizugeben. Zitternd vor Kälte suchte Hannah Schutz unter der Markise eines Pfandhauses. Im Fenster lagen die traurigen, altmodischen Überbleibsel von Menschenleben: goldene Eheringe und Uhren, alte Haushaltsgeräte und 2-D-Bildschirme. Mit diesen staubigen, einst begehrten Dingen, die Menschen einfach aufgegeben hatten, fühlte Hannah eine innige Verwandtschaft.
Die Tür des Ladens ging auf, und eine Frau mittleren Alters steckte den Kopf
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