Die Geächteten
heraus. »Hast du etwas zu verpfänden, Kleine?« Die Frau hatte Ähnlichkeit mit Schellack: gefärbtes kastanienbraunes Haar, das zu einer Hochfrisur toupiert war, das Gesicht dick mit glänzendem Make-up bedeckt.
»Nein, ich wollte nur für einige Minuten aus dem Regen rauskommen.«
Die Frau hob leicht ihr Kinn und sagte: »Werde irgendwo anders trocken. Verchromte sind schlecht fürs Geschäft.« Sie wandte sich um, um wieder in den Laden zu gehen.
»Haben Sie vielleicht Regenmäntel zu verkaufen?«, fragte Hannah. »Oder Regenschirme? Ich kann bezahlen.« Mehr noch als das Zittern, das sie in ihrer eigenen Stimme hörte, hasste sie das Mitleid, das kurz in den cleveren Augen der Frau aufblitzte.
»Warte eine Sekunde.« Die Frau ging wieder in den Laden und kam kurz darauf mit einem billigen Plastikponcho in der Hand zurück. Sie warf ihn Hannah zu. »Hier, nimm das.«
»Wie viel bin ich Ihnen schuldig?« Sie tastete nach ihrem Ausweis.
»Vergiss es«, sagte die Frau mit einem abweisenden Winken einer ringverkrusteten Hand. Auf ihren Fingernägeln blitzten winzige Hologramme von Elvis auf. »Jetzt verschwinde hier, bevor ich die Bullen rufe.«
Der Poncho war für einen Mann, und er verschluckte Hannah. Er hatte einen unangenehmen moschusartigen Geruch, als hätte ein ungewaschener Hund ihn als Bett benutzt. Doch er bedeckte sie von Kopf bis Fuß und hatte zum Glück eine Kapuze. Sie setzte sie auf, bevor sie weiterging – in die gleichmütige Wildheit des Unwetters.
Der Poncho machte sie unauffällig, so war sie nur eine von vielen Gestalten, die durch den Regen hasteten, und sie schaffte es zu Becca ohne einen weiteren Zwischenfall. Auf dem Gehsteig vor dem Haus ihrer Schwester blieb sie stehen. Das Serienhaus mit drei Schlafzimmern war in der Boomzeit der 1990er-Jahre schnell und preiswert gebaut worden, nach der Zweiten Großen Depression war es saniert worden, und jetzt brauchte es, wie viele der Nachbarhäuser auch, erneut eine gründliche Veränderung. An der Tür hing ein Kranz aus Kiefernzapfen mit einer leuchtend roten Schleife. Hannah hatte Weihnachten völlig vergessen, und angesichts ihrer jetzigen Umstände schien das Fest widersinnig, ein schlechter Scherz. Sie stellte sich vor, wie sie Geschenke rot einwickelte, Weihnachtslieder sang und Lebkuchenmänner dekorierte. Was für ein festliches Schauspiel würde sie darbieten.
Ihre Füße schleppten sich dahin, als sie weiterging. Am Fuß der Treppe, die zur Eingangstür führte, hielt sie an. Was, wenn Cole daheim war oder Becca Besuch hatte? Vielleicht sollte Hannah lieber erst ein Netzwerk suchen und sie anrufen. Doch es war zu spät: Die Haussensoren hatten sie bereits erfasst. Hannah hörte, wie sich Schritte näherten, und jetzt wurde die Tür auch schon geöffnet. Und in dem Augenblick, als sie den Kopf senkte, um ihr Gesicht zu verstecken, konnte sie einen kurzen Blick auf ihre Schwester hinter der Abschirmung werfen.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Becca mit ihrer charakteristisch zuvorkommenden Art, die sie jedermann entgegenbrachte, selbst einer schmuddeligen Fremden auf ihrer Türtreppe.
Hannah war wie gelähmt. Es gelang ihr nicht, aus eigenem Antrieb hochzuschauen, sie hätte den unvermeidlichen Schock und den Abscheu ihrer Schwester nicht ertragen – und was noch viel schlimmer war, das Mitleid in deren Gesicht. Doch dann hörte sie, wie ihre Schwester tief einatmete, wie die Fliegengittertür knarrend aufging und wie Beccas Füße sanft über die Treppe scharrten. Und dann schoben Hände behutsam die Kapuze des Ponchos nach hinten, und Hannah spürte, wie der Regen gegen ihren unbedeckten Kopf klatschte.
»Hannah«, sagte Becca. Nur das, nur den Namen, und es klang Sorge mit, aber auch Liebe und der Glaube, dass alles gut werden würde. Becca würde sie nicht verachten oder zurückweisen.
Hannah schaute auf, und dann war sie es, die schockiert nach Luft rang, weil die Augen ihrer Schwester vom Weinen ganz verquollen waren und eines von einem violetten Kreis umrandet war. Sie öffnete den Mund, um ihre Wut über Cole herauszulassen, dieser abscheuliche, feige, jämmerliche …
Doch Becca hinderte sie mit erhobener Hand daran. »Bitte, Hannah, sag nichts.« Verurteile mich nicht. Bemitleide mich nicht.
Das verstand Hannah nur zu gut, und so schluckte sie ihre Worte, nicht ihre Wut, hinunter, neigte leicht den Kopf und lehnte sich nach vorn. Nach wenigen Sekunden fühlte sie die zarte Berührung der Stirn ihrer Schwester
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