Die Geächteten
Hannah, dass TJ Kayla so anblickte, wie Becca sie vorhin angeschaut hatte: als versuchte er, die Frau in Kayla wiederzufinden, die er einst geliebt hatte. Ein Versuch, der misslang. Würde Aidans Gesicht genauso aussehen, wenn er Hannah heute sehen könnte? Würde er sie überhaupt erkennen? Sie zwang sich, nicht mehr darüber nachzudenken. Selbst wenn sie es ertragen könnte, die Antworten darauf zu bekommen, so konnte sie aufhören, über einen Augenblick zu spekulieren, den es niemals geben würde.
Als sie mit dem Essen fertig waren, stand Kayla plötzlich auf: »Hannah bleibt heute Nacht hier«, sagte sie.
»O.k.«, antwortete TJ. Er sah Hannah an. »Du kannst auch morgen Nacht hierbleiben, wenn du möchtest.«
»Danke«, sagte Hannah erleichtert.
»Sie kann mit mir im Zimmer deiner Mutter schlafen«, sagte Kayla.
»In Ordnung. Alles, was du willst.«
Kaylas Augen sprühten. »Wirklich, TJ? Alles , was ich möchte?«
»Kayla …«
Hannah kam wieder auf die Beine. Sie hatte genug von Konfrontationen, mehr konnte sie heute wirklich nicht ertragen. »Ich bin fix und fertig. Ich gehe ins Bett.«
»Gute Idee«, sagte Kayla. Sie verließ das Wohnzimmer.
»Danke, dass ich hierbleiben darf«, sagte Hannah zu TJ.
»Ich bin glücklich, dass du gekommen bist. Sie braucht jemanden.«
»Sie braucht dich . Sie hat auf dich gezählt.«
Er schüttelte den Kopf. Doch die Traurigkeit in seinem niedlichen Gesicht war fehl am Platz. »Ich kann nicht«, sagte er. Und sie konnte es sehen: dass er es versucht hatte, wirklich versucht hatte, dieser Situation gewachsen zu sein, doch gescheitert war. Sie konnte die kleinen Risse in seinem Charakter sehen, die für sein Scheitern verantwortlich waren, sie konnte sehen, dass ihn sein Scheitern eine Weile verfolgen würde, doch dass er darüber hinwegkommen würde, sein Schuldgefühl überwinden würde. Nur manchmal würde die Erinnerung an Kayla bei bestimmten Gelegenheiten ungebeten wieder auftauchen, doch er würde die Gedanken schnell wieder beiseiteschieben können. Nicht, weil TJ ein schlechter Mensch war, sondern weil er einfach so gestrickt war. Engel waren nicht dafür gemacht, besorgt oder unglücklich zu sein.
Im Schlafzimmer sah Hannah, wie Kayla sich durch eine Kommode mit Nachtwäsche wühlte. TJs Mutter schien einen sehr sinnlichen Geschmack zu haben. Die Suche brachte ein Dutzend knapper Seidennachthemden in verschiedenen Farben zutage sowie einen schwarzen Spitzenbody, bei dem Hannah schon beim Hingucken einen glühenden Kopf bekam. Kayla hielt ihn hoch und wedelte ihn anzüglich hin und her. »Wärst du nicht gern mal in so einem Ding im Zentrum zum Frühstück gegangen? Pastor Henleys Augen wären ihm aus seinem dicken Kopf gefallen.« Sie lachten ein befreites Lachen, dessen Klang die hässlichen Dinge des Tages ein Stück weit vertrieb.
Hannah nahm das zuletzt aus der Kommode herausgezogene Nachthemd und ging ins Bad, um sich umzuziehen. Sie zog es über den Kopf und genoss nach monatelanger grober Baumwolle das Gefühl von Seide auf ihrer Haut. Zwangsläufig kam die Erinnerung an das blaue Seidenkleid zurück, das sie für Aidan getragen hatte: Sie fühlte seine Finger, die sich in ihren Hüften vergruben, fühlte die Wand in ihrem Rücken, hart und unnachgiebig, so wie er. Das war das einzige Mal, dass er ihr gegenüber grob gewesen war. Danach hatte er Reue bekundet: Hatte er sie verletzt? Hatte sie Angst vor ihm gehabt? Sie log und sagte nein. Es hatte wehgetan, doch dieser Schmerz war mit einem merkwürdigen Vergnügen verbunden gewesen, das sie zuvor noch nicht gekannt hatte. Bevor sie in einen tiefen Schlaf gefallen war, hatte sie gedacht, wie merkwürdig es doch war und wie beunruhigend, dass das eine neben dem anderen bestehen und das andere sogar noch intensivieren konnte.
Später war sie aufgewacht und hatte gesehen, wie Aidan nachdenklich auf sie herabschaute. »Was ist?«, hatte sie gefragt.
»Hast du das genäht?« Er hatte mit dem Kopf in Richtung Boden auf ihr zusammengeknülltes Kleid gedeutet.
»Ja.«
»Für mich?«
»Nein, für mich selbst. Das mache ich seit Jahren. Niemand weiß das.«
»Sind alle Kleider … so wie dieses?«
Hannah zögerte. Würde er schlecht von ihr denken, weil sie so sinnliche Kleider nähte, obwohl es im Widerspruch zu ihrem Glauben stand? »Ja«, gab sie zu.
»Warum tust du das?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, dass du das verstehen würdest.«
»Versuch es zu erklären«, hatte er mit
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