Die Geächteten
hatte noch nicht die Zeit, einen Ort für dich zu finden, ich habe auch noch keinen Job …«
»Daddy, es ist alles in Ordnung. Du bist nicht für mich verantwortlich.«
»Hättest du eine Tochter, dann wüsstest du es besser.«
Seine Worte beschworen ein Bild von Pearl herauf, Pearl, wie sie hätte sein können: auf dem Rücken in ihrem Bett liegend, mit den dicklichen Armen herumfuchtelnd und Hannah anlächelnd.
»Es tut mir leid, das war gedankenlos von mir«, seufzte ihr Vater laut. »Wir werden das Problem lösen, Hannah. Ich werde dich aufgabeln, sobald ich mit der Arbeit fertig bin.«
Ein Sirenengesang, und Hannah sehnte sich danach, sich auszuliefern. Wie wunderbar könnte es sein, sich seiner liebenden Führung anzuvertrauen, ihn an allem teilhaben zu lassen, ihm die Verantwortung zu übertragen und planen zu lassen, was als Nächstes zu tun sei. Ihr Vater, der zu Hilfe eilte.
Nein. Sie war kein Kind mehr, und sie hatte ihn tief genug in ihre Probleme hineingezogen, ihn und auch Becca. Hannah schüttelte den Kopf und sprach mit fester Stimme: »Ich werde die Stadt verlassen. Ich brauche ein paar Sachen von zu Hause. Kannst du sie mir bringen?«
»Mach dich nicht lächerlich. Wohin willst du gehen? Du hast keine Verbindungen, kein Geld.«
»Meine Freundin hat Geld«, log sie. »Und ich habe eine Entscheidung getroffen. Ich kann nicht hierbleiben, nicht nach dem, was geschehen ist. Du wirst das sicher verstehen.«
»Die Freundin von dir, ist sie auch …«, stockte er.
»Eine Kriminelle? Eine Ausgestoßene? Ja, sie ist wie ich.« Er wich zurück, doch Hannah schob ihre Gewissensbisse beiseite. Sosehr sie es auch hasste, ihn zu verletzen, wusste sie doch, dass sie ihm, sollte sie bleiben, nur noch mehr Schmerzen zufügen würde.
»In Ordnung«, sagte er und gab sich geschlagen.
Sie gab ihm eine Liste – ihren Port, einige Kleidungsstücke, einige Toilettenartikel –, und sie verabredeten sich für sieben Uhr auf dem Parkplatz des kleinen Einkaufszentrums unweit ihres Elternhauses. Hannah legte auf und konnte dem Drang nicht widerstehen, sich auf die Suche nach Aidan zu machen. Es gab über hunderttausend Einträge. Sie schaute sich die jüngsten Einträge an und fand ein Nachrichten-Video seiner Amtseinführung als Minister für Glaubensfragen. Mit Alyssa, seinen Eltern, Präsident Morales und einigen anderen Amtsträgern stand er auf einem Podium. Der Präsident sang ein Loblied auf die Arbeit, die Aidan so unermüdlich zum Wohl der Kinder und der Armen getan habe, auf seine Missionsgesellschaft, die Millionen von Menschen weltweit Hoffnung gegeben habe, und auf seine Vision von einem Amerika und einem Planeten, die in der Liebe zu Gott vereint waren. Alyssa hielt die Bibel, als Aidan den Amtseid leistete und schwor, die Verfassung zu achten und gegen alle Feinde im In-und Ausland zu verteidigen, so wahr ihm Gott helfe. Unter dem begeisterten Applaus der versammelten Gäste trat Aidan ans Mikrofon. Von Nahem war sein Gesicht verhärmt, seine Stimmung sichtbar düster. Er begann mit seinen Danksagungen: Er bedankte sich bei Gott und Seinem gesegneten Sohn Jesus Christus, beim Präsidenten und Vizepräsidenten, bei seinem Vorgänger, dem Senator und den Kongressabgeordneten, bei seinen Eltern und schließlich bei seiner Frau, deren liebendes und mitfühlendes Wesen Ansporn für ihn sei, nicht nur ein besserer Minister, sondern auch ein besserer Mann zu werden. Diese Worte entlockten Alyssa ein verlegenes Lächeln und den Zuschauern begeisterte Ausrufe, doch auf Hannah wirkten sie alle wie auswendig gelernt, abgestumpft. Und sie wusste, es lag daran, dass er um sie trauerte. Sie fragte sich, ob sie aus ihm einen besseren oder einen schlechteren Mann gemacht hatte? Hatte das überhaupt in ihrer Macht gestanden oder hatte sie ihm einfach erlaubt, der Mann zu sein, der er war, gut und schlecht zugleich?
Die Rede ging weiter, doch Hannah stellte das Video ab und ging zu Kayla in die Küche. Diese hatte gute Neuigkeiten: Sie hatte ihren verrückten Cousin erreicht, und der hatte sich einverstanden erklärt, sie aufzunehmen, bis sie eine eigene Bleibe gefunden hätten. Während Kayla ihre Sachen packte, wusch Hannah das Frühstücksgeschirr ab und machte das Bett. Fünfzehn Minuten später waren sie bereit zum Aufbruch.
Als sie aus der Tür gingen, sagte Hannah: »Willst du ihm nicht eine Nachricht hinterlassen?«
»Nee! Es gibt nichts anderes zu sagen als auf Wiedersehen.«
Sie gingen nach Greenville
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