Die Geächteten
ihre Mutter geantwortet. »Willst du das etwa?« Die Antwort hatte Hannah derart durcheinandergebracht, dass sie nie wieder danach gefragt hatte.
Jetzt, wo sie sich selbst im Spiegel betrachtete, konnte Hannah den Standpunkt ihrer Mutter besser verstehen. Die Jeans war etwas zu kurz, doch ansonsten passte sie genau und brachte die Formen ihres Körpers perfekt zum Ausdruck. Sie betonte die Länge ihrer Beine, die Schmalheit ihrer Taille, die Rundungen ihres Gesäßes. Wenn sie die Beine zusammenstellte, befand sich genau unter ihrem Schritt ein dreieckiger Spalt und ein weiterer zwischen den Waden. Diese Lücken schienen nahezu Einladungen für Männer zu sein.
Und trotzdem. Hannah neigte den Kopf und verfiel auf einen anderen Gedanken. Wenn Frauenhosen zweideutig waren, dann war das bei Männern doch genauso. Sie zeigten sehr viel deutlicher, was unter der Hose steckte. Da gab es nahezu immer eine Schwellung – auch wenn man nicht wollte, musste man einfach hingucken –, und wenn die Hose eng war, konnte man praktisch alles sehen. Und Männer schafften es immer wieder, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken! Sie berührten und kratzten sich völlig unbefangen, als wären sie allein und nicht in der Öffentlichkeit. Selbst Aidan hatte das manchmal gedankenverloren getan. Und niemand hatte bisher Männer beschuldigt, anstößig zu sein oder die Sünde herauszufordern, wenn sie Frauen daran erinnerten, was zwischen ihren Beinen war. Sie sah sich im Spiegel an und ärgerte sich plötzlich über diese Doppelmoral. So war ihr Körper nun einmal gebaut. Die Tatsache, dass er gut gebaut war und in einer blauen Jeans steckte, hieß noch lange nicht, dass sie es mit jedem treiben würde.
»Lebst du noch da drinnen?«, rief Kayla.
Hannah lief zu ihr in die Küche. »Guten Morgen!«
»Guten Morgen«, erwiderte Kayla strahlend. Die Heiterkeit wirkte ein wenig erzwungen, doch Hannah war glücklich zu sehen, dass die Verzweiflung vom Vortag fort war.
»Wo ist TJ?«
Kayla zuckte mit den Achseln. »Er war schon gegangen, als ich aufgestanden bin. Er hat einen Zettel dagelassen, auf dem steht, dass er gegen drei Uhr zurück ist. Ich wäre gern weg, bevor er kommt.«
»Du meinst für immer?«
»Ja.« In Kaylas Stimme schwang nicht der geringste Zweifel mit.
»Wohin?«
Während sie frühstückten, diskutierten sie ihre Möglichkeiten. Keine von beiden wollte in Dallas bleiben, die Assoziationen waren zu schmerzvoll. Doch die Vorstellung, an einen Ort zu gehen, wo sie niemanden kannten, war beängstigend. »Ich habe einen Cousin in Austin«, sagte Kayla. »Er ist völlig übergeschnappt, aber er ist Familie, ich wette, er hilft uns, wieder auf die Beine zu kommen. Und dann ist da Annie, meine beste Freundin aus dem College, sie lebt in Corpus.« Kayla warf Hannah einen erwartungsvollen Blick zu.
»All meine Freunde und meine Familie leben hier.« Sie spürte plötzlich, wie klein und beschränkt ihr früheres Leben doch gewesen war: eine Schneekugel ohne Schnee. »Ich bin für Austin, wenn dein Cousin uns hilft. Aber wir brauchen ein Auto.«
»Ich habe eins. Es steht vor meinem alten Apartment, vorausgesetzt, es ist nicht abgeschleppt worden. Mein Problem ist die Kohle. Ich habe fast nichts mehr.«
»Ich habe reichlich Geld«, sagte Hannah. »Genug, dass es eine Weile für uns reicht.« Kayla sah sie neugierig an, fragte aber nicht weiter. Dafür war sie dankbar. »Wie auch immer, bevor wir irgendwohin fahren, brauche ich einige Kleidungsstücke und andere Dinge von zu Hause. Das heißt, ich muss meinen Vater anrufen. Ich bezweifle, dass meine Mutter mich ins Haus lässt.«
»Das kann ich nachempfinden. Wäre TJ nicht in mein Apartment gegangen und hätte meinen Port und andere Sachen geholt, nachdem man mich festgenommen hat, hätte meine Mutter mit Sicherheit alles weggeworfen.«
»Mein Vater kommt um sechs von der Arbeit. Er könnte uns gegen sieben Uhr treffen.« Wenn er überhaupt noch mit mir spricht .
Hannah rief vom Video im Schlafzimmer aus an. Zu ihrer Erleichterung nahm ihr Vater sofort ab.
»Gott sei Dank«, sagte er, als er ihr Gesicht sah. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht, und Becca auch. Bist du in Ordnung?« Er sah verhärmt und ängstlich aus – das war ihre Schuld, das wusste Hannah.
»Mir geht es gut. Ich bin bei einer Freundin in Ost-Dallas.«
»Ich weiß, ich habe dich über Geosat gefunden. Ich wollte schon Hals über Kopf dort hinkommen. Aber Hannah, warum hast du das Zentrum verlassen? Ich
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