Die Geächteten
ein gutes Mädchen, wähle die Trinitätspartei, sitz nicht mit gespreizten Beinen da. Stell keine Fragen, mach einfach, was man dir sagt.
»Hallo, wo bist du gerade?«, fragte Kayla. »Du bist irgendwie gerade nicht erreichbar für mich.«
»In der Vergangenheit«, sagte Hannah, »wo denn sonst?«
»Ich verstehe das. In letzter Zeit habe ich mich auch viel dort rumgetrieben, und wenn ich wieder in die Gegenwart kam, fühlte ich mich schlechter, nicht besser. Ich lasse sie jetzt dort, wo sie hingehört, im Rückspiegel.«
Als Hannah durch die schmutzigen Scheiben des Busses die Lichter der Stadt an sich vorüberziehen sah, wurde sie von einer plötzlichen Traurigkeit ergriffen. Als sie noch klein war, hatte sie stets geglaubt, die Landschaft würde sich bewegen, an ihr vorbeiziehen, während sie an ihrem Platz blieb. Diese Illusion gab es nicht mehr. Jetzt war sie es, die alles hinter sich ließ.
Kurz nach Sonnenuntergang erreichten sie den Apartmentkomplex und fanden Kaylas Auto. Der umgebaute Honda Duo war so alt, dass er keine Smart-Funktionen besaß, nicht einmal mit einem Navigationsgerät ausgerüstet war. Immerhin hatten die Solarmodule ihren Job gemacht – das Auto war aufgeladen genug, um den Motor zu starten und losfahren zu können.
»Gutes Mädchen«, sagte Kayla und tätschelte das verstaubte Armaturenbrett. »Das ist Ella. Sie hat viel mit mir erlebt.«
»Warum Ella?«, fragte Hannah.
»Natürlich nach der First Lady of Song.« Hannah schaute Kayla verständnislos an, und Kayla sagte: »Oh, komm schon. Willst du mir etwa sagen, dass du noch nie von Ella Fitzgerald gehört hast?«
»Nee.« Die einzige Musik, die im Payne-Haushalt erlaubt war, war die, die ihre Eltern als inspirierend empfanden: Klassik, Gospel, und wenn ihre Mutter in toleranter Stimmung war, christlicher Rock.
Kayla dockte ihren Port an. »Also, das ist eine Tragödie, die wir sofort in Ordnung bringen müssen.«
Ella sang für sie den ganzen Weg nach Plano. Ihre Stimme erinnerte Hannah an Satin, strahlend und erregend, mit unerwarteten feinen Schattierungen, die sich mit dem Lichteinfall änderten. Gleichzeitig hatte die Stimme die Reinheit und Schwerelosigkeit von weißem Tüll. »Als ob sie niemals Schmerz empfunden hätte«, sagte Hannah.
»Oh, sie hat sehr viele Schmerzen erleiden müssen. Sie war Waise, wurde in eine Erziehungsanstalt gesteckt, hat zwei Scheidungen erlebt, war Diabetikerin. Am Ende ihres Lebens mussten sie ihr beide Beine amputieren.«
»Wow! Woher weißt du das alles?«
»Wir sind verwandt, einige Generationen zurück«, sagte Kayla sichtlich stolz. »Ich bin mit ihrer Musik aufgewachsen.«
Auf der Autobahn herrschte ungewöhnlich wenig Verkehr, und so erreichten sie Plano eine halbe Stunde früher. Sie hielten an der DuraShell, um das Auto aufzuladen. Hannah bezahlte mit ihrem Ausweis und war ein weiteres Mal über den sechsstelligen Betrag auf ihrem Konto erstaunt – mehr Geld, als sie jemals zuvor in ihrem Leben besessen hatte. Und das Einzige, was ich dafür tun musste: Ich musste zur Ehebrecherin werden . Noch gab sie ihr eigenes Geld aus, aber sie wusste, das würde nicht lange reichen. Schon in einigen Tagen würde das Konto die Einhunderttausend-Marke unterschreiten, und dann wäre sie ganz offiziell in Aidans Schuld. Und die Tatsache, dass er vermögend war und ihr das Geld freiwillig gegeben hatte, aus Liebe – oder Schuldgefühl –, machte es für Hannah nicht leichter, die Pille zu schlucken.
Als sie beim Einkaufszentrum ankamen, war der Parkplatz voll mit Autos und beladenen Kunden. Die Lichter in den Fensterauslagen erleuchteten jede Menge Roboter-Elfen, Trommler und tänzelnde Rentiere. Eine Gruppe von Sternsingern, die in Kostümen à la Charles Dickinson steckten, sangen Weihnachtslieder, und in der Nähe bimmelte ein Freiwilliger von der Heilsarmee im Weihnachtsmannkostüm mit einer Glocke. Die beiden Frauen beobachteten dieses fröhliche Treiben von einem der hinteren Parkplätze aus. Ella leistete ihnen dabei Gesellschaft. »Someday he’ll come along, the man I love …«
»Das ist surreal, findest du nicht?«, fragte Hannah. Sie fühlte sich von den vorbeihetzenden Menschen, die mit ihren alltäglichen Besorgungen und ihren Gedanken beschäftigt waren – ich muss noch etwas für Onkel John finden. Vielleicht eine Krawatte, oder habe ich ihm die letztes Jahr geschenkt? –, so weit weg, sie hätte sie genauso gut vom Mond aus betrachten können. Sie zeigte auf eine junge
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