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Die Geächteten

Die Geächteten

Titel: Die Geächteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hillary Jordan
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und dann zum Bahnhof. Der Bürgersteig war schmal, sodass sie hintereinandergehen mussten, Hannah lief vorweg. Sie sprachen nicht miteinander, doch Hannah konnte Kaylas leise Schritte hören, deren Rhythmus ein anderer war als der ihrer Schritte. Wie anders hatte sie sich gestern gefühlt, als sie diesen Weg gegangen war, und das alles nur wegen dieses einfachen Geräuschs, das ihr vermittelte, dass sie nicht allein war. Ein Auto bog ab und fuhr auf sie zu. Hannah wollte gerade ihre Kapuze aufsetzen, tat es dann aber nicht und ließ die strahlende Nachmittagssonne auf ihr nacktes rotes Gesicht scheinen.
    Kaylas Apartment lag in Oak Lawn. Sie nahmen den Zug nach Lemmon und dann den Bus nach Wycliff. Der Fahrer beachtete sie nicht weiter, doch die Blicke der Fahrgäste waren stechend und zeigten unmissverständlich, dass sie nicht willkommen waren. Sie wurden von ihnen in den rückwärtigen Bereich des Busses gedrängt. Dort saßen bereits links und rechts vom Gang zwei andere Verchromte, beide männlich, einer Rot, der andere Grün. Bei dem Roten handelte es sich um einen Penner, wahrscheinlich obdachlos und mit Sicherheit seit längerer Zeit ungewaschen. Er roch nach Schnaps, und in seinem Mund versammelten sich einige vergammelte Zähne. Der Grüne, der auf der anderen Seite saß, war jung und sah gut aus, er hatte eine elektrisierende Ausstrahlung, und seine Augen blickten manisch. Hannah und Kayla tauschten einen Blick und wählten den penetrant stinkenden Penner. Sie nahmen zwei Reihen hinter ihm Platz, vier Reihen hinter dem Grünen, der sie, als sie vorübergingen, neugierig anstarrte. Wie bereits am Vortag bei dem Gelben am Bahnhof begann Hannah automatisch damit, ihn abzuschätzen, die Informationen, die Gesicht und Körper lieferten, zu einem Puzzle zusammenzusetzen. Sie versuchte, sich ein Urteil darüber zu bilden, ob er ihnen Leid antun könnte. Die Grünen waren eine weit gefasste Kategorie. Wenn er ein Brandstifter oder ein bewaffneter Dieb war, wäre er wahrscheinlich nicht gefährlich, zumindest nicht, was sie anbetraf. Aber wenn er verchromt worden war, weil er irgendeine schwere Körperverletzung begangen hatte …
    Der Grüne drehte sich zu ihnen um und sah sie an. »Ich habe das Bowiemesser von TJ«, flüsterte Kayla. Sie öffnete die Reisetasche und zeigte Hannah das Messer. »Ich habe es heute Morgen aus seinem Zimmer geholt.«
    »Gut, wir könnten es brauchen«, sagte Hannah. »Aber nicht bei diesem Kerl.« Wieder einmal war sie über ihre eigene Sicherheit erstaunt. Hatte das Leben als Rote ihr einen sechsten Sinn gegeben, ein Wissen um verborgene Bedürfnisse und Sünden, die in den Herzen anderer Menschen schlummerten? Sie schüttelte den Kopf, als ihr eine wahrscheinlichere, weniger romantische Erklärung durch den Kopf ging: Das Leben als Rote zwang sie erstmals in ihrem Leben, wirklich aufmerksam und achtsam zu sein.
    »Der Busfahrer wird nicht einen Finger rühren, um uns zu helfen, da kannst du Gift drauf nehmen«, sagte Kayla. »Und auch keiner der Fahrgäste da vorn.«
    »Das ist schon in Ordnung. Wir brauchen sie auch nicht.« Hannah deutete in Richtung des Grünen, der mittlerweile in ein Holo-Spiel vertieft war, das er auf seinem Port spielte. »Guck, er hat schon das Interesse an uns verloren.«
    Kayla sah Hannah anerkennend an. »Gott muss dir einige Infos geschickt haben, die ich mit meiner Bandbreite nicht empfangen kann. Alles, was ich dazu sagen kann, ist, dem Himmel sei Dank!«
    »Gott hat damit nichts zu tun«, sagte Hannah.
    »Ich dachte, du wärst eine gläubige Christin.«
    »War ich mal. Und du?«
    »Nö, ich habe es nicht mit der Religion. Auf jeden Fall nicht so, wie sie es uns in der Kirche erzählen. Ich denke, wenn es einen Gott gibt, dann wäre Sie gut und angesichts der Zustände hier würde eine Woge des Zorns in Ihr aufsteigen.«
    Das ist Blasphemie , dachte Hannah, und eine Welle der Empörung stieg plötzlich in ihr auf. Einen Moment später wunderte sie sich über ihre heftige Reaktion. Wieso reagierte sie, die nicht mehr an Gott glaubte, so heftig? Das musste ein Reflex gewesen sein. Sie hatte nicht mehr Kontrolle darüber als über ihre Speicheldrüsen beim Anblick frisch gebackenen Brotes. Waren denn die religiösen Glaubensvorstellungen in ihr eine Reihe tief verankerter Grundsätze, die zum Automatismus, ja instinktiv geworden waren? Wenn du das Wort Gott hörst, denke Er . Siehst du das Elend der Menschheit, beschuldige Eva. Gehorche deinen Eltern, sei

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