Die Gebeine von Avalon
Probe. Und ungefähr da muss es dann angefangen haben. Ich wusste dann Dinge …»
Sie beugte sich vor. Ein Geruch von Minze umgab sie.
«Dinge, die ich nicht wissen sollte. Was Leute gemacht hatten.»
Sie redete gern darüber. Es kam mir so vor, als hätte sie noch nie jemand danach gefragt – obwohl das natürlich nicht stimmte. Sie ging zum Kessel und rührte den Eintopf mit einem hölzernen Löffel um. Dann kostete sie ein wenig, kam zurück und strahlte mich im Licht des spärlichen Feuers an, ein Klecks Eintopf an ihrem Kinn.
«Meine Mutter hat mich rausgeworfen», verriet sie voller Stolz. «Sie meinte, ich weiß zu viel, versteht Ihr?»
«Weil Ihr Eurer Mutter Dinge erzählt habt? Dinge, die Euch das Feenvolk verraten hatte?»
«Dinge, die ich
wusste
.» Der Blick aus ihrem einzigen Auge schien sich in mich hineinzubohren, bis ich wegsehen musste. «Aber ich habe
gesagt
, dass ich das alles vom Feenvolk hätte. Versteht Ihr, was ich meine? Hab schnell gemerkt, dass man damit durchkommt. Wenn man immer behauptet, das Feenvolk hat das erzählt, bekommt man nicht die Schuld.»
«Aber Ihr wusstet …»
«
Pah!
Ich war jung. Hab mir selbst eingeredet, dass es das Feenvolk war. Schien es einfacher zu machen. War es aber nicht. Zu guter Letzt ganz bestimmt nicht. Wenn du die Schuld immer auf die Feen schiebst, das mögen die gar nicht, und dann steckst du nachher richtig in der Schiete.»
Schlimm wurde es, als man sie vor das Kirchengericht in Taunton brachte. Und ihr dort all ihre Geschichten vorwarf. Sie mahnte, was das Feenvolk einem antun konnte, wenn man in seine Fänge geriet. Wie es einem das Augenlicht nehmen konnte. Als sie vor Gott alles gestanden hatte und man sie gehen ließ, fürchteten sich die Leute vor ihr. Zeigten auf der Straße mit dem Finger auf sie. Legten ihr Scheißhaufen vor die Tür und tote Ratten.
Die wenigen, die noch ihre Dienste suchten, waren böse Menschen, die wollten, dass das Feenvolk anderen Schaden zufügte. Ein paarmal war Joans Lage so verzweifelt gewesen, dass sie das Geld dafür nahm. Später gab man deshalb immer ihr die Schuld, wenn jemand unerwartet starb.
Die ganze Zeit über hörte sie die Stimmen, die in ihrem Kopf schwätzten und sie nachts weckten … und dann, genau wie man es ihr im Gerichtssaal angedroht hatte, konnte sie immer schlechter sehen, und schließlich … holte sich das Feenvolk ihr Auge.
Sie zog die Augenklappe beiseite. Darunter war nur vernarbte, faltige Haut.
«Sie haben mir keine Ruhe gelassen, versteht Ihr? Sie kreischten:
Tu es! Tu es!
Sie trieben mich in den Wald zum Feenhügel, und dort oben auf dem Gipfel … ein schöner spitzer Stock … und dort tat ich es dann! Aaaargh!»
Sie packte ihre knochige Faust mit der anderen Hand und rammte sie in ihr zerstörtes Auge.
«Allmächtiger!»
«Ich musste dort weg. Nachts bin ich fort und habe nur mitgenommen, was ich in meinen Schal wickeln konnte.»
†
Das hatte also zu ihrer Flucht ins
offenkundig mystischere Glastonbury
geführt, wie Joe Monger es genannt hatte. Sie machte sich auf in eine Stadt, wo die Freundschaft mit dem Feenvolk einem Zutritt zu so manchem Haus verschaffte. Selbstverständlich hielt man diese dürre Frau, die auf dem Tor in ihrer primitiven Behausung lebte, selbst in Glastonbury für ein bisschen verrückt. Doch die Menschen hier waren seit ihrer Geburt an die unterschiedlichsten Verrücktheiten gewöhnt und hielten Joan zumeist einfach für harmlos. Besonders Cate Borrow, die sie aufnahm und ihr dann eine Arbeit bei einer alten Frau mit einem gewissen Vermögen verschaffte, welche nicht lange danach starb und Joan ein wenig Geld vermachte. Genug, um eine Weile davon zu leben, ohne wie früher ihre Gabe missbrauchen zu müssen.
Aber als das Geld aufgebraucht war, rieten Joan die Stimmen in ihrem Kopf, sich erneut dem Feenvolk zuzuwenden. Und dem Tor, wo dessen König lebte. Als sie eines Tages auf dem Markt vom Pulver der Visionen hörte, ging sie, wie Joe Monger erzählt hatte, wieder zu Cate Borrow.
«Warum sonst war ich denn hierhin gekommen, wenn mich nicht der Feenkönig persönlich herbestellt hatte, versteht Ihr?»
Joan kicherte.
Und so kamen wir auf den Tor und die Nacht vor Allerheiligen zu sprechen.
«Was ist damals geschehen?», fragte ich sanft. «Wollt Ihr es mir erzählen?»
«Ich weiß nicht.» Sie verdrehte ihr Auge und sah mich nicht an. «Ich weiß nicht.»
«Joe Monger hat Euch von mir erzählt, nicht wahr?»,
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