Die Gebeine von Avalon
seit über einem Tag nicht mehr geschlafen und nicht einmal beim Abendmahl in der Kirche Brot gegessen. Und jetzt war mir etwas offenbart worden, von dem ich nicht wusste, ob ich es glauben konnte. Entweder war das alles nur eine einzige Wahnvorstellung, oder mein Leben stand vor einem Wendepunkt.
Dudley und ich standen auf dem Gipfel des Tor. Fyche konnte uns zweifellos sehen, aber das kümmerte mich keinen Pfifferling.
«Ich sehe die Fische», sagte Dudley. «
Sind
das nicht die Fische? Wo ist der Adler … in den Aufzeichnungen war es deutlicher auszumachen.»
«Er wird auch als Phönix bezeichnet und repräsentiert den Wassermann. Sieh dir die Hügelkette an, ihre genaue Form. Sie stellt nicht den Wasserträger dar, sondern eher sein Gefäß.»
Er konnte es nicht erkennen. Und ich auch nicht, wenn ich ehrlich bin, obwohl sich das Bild in meine Seele gebrannt hatte. Um es wirklich ganz genau zu sehen, hätten wir uns in größerer Höhe befinden müssen, sehr viel höher. Hätten darüberfliegen müssen … wie ein Adler.
Ich fliege.
Komm,
hatte sie gesagt.
Vielleicht ist das zu viel für den Anfang.
Die Himmelsvision. Auf die ich einen Blick hatte werfen können, während ich als Geistwesen durch meinen nächtlichen Garten schritt und die Sterne mit meinen Händen berührte. In jenem Moment, in dem ich beinahe Sein göttliches Wesen und Denken verstanden hatte. Hatte ich das wirklich? War das tatsächlich geschehen, oder war es nur ein Hirngespinst gewesen?
«John?»
«Vergib mir», sagte ich.
Es gab nur wenige Männer seines Standes, die so empfänglich für dieses Wissen waren wie Dudley. Dennoch wünschte ich leidenschaftlich, dass
sie
hier bei mir wäre. Sie wäre in der Lage gewesen, es zu verstehen, die Teile richtig zusammenzufügen, wenn Joan ihr in jener stürmischen Nacht die gleiche Geschichte erzählt hatte wie mir. Womöglich hatte sie sich danach von Joan verabschiedet und war trotz der drohenden Gefahr in der Morgenröte durch die Straßen gehuscht, um ihren Vater zu fragen, was
er
über das große Geheimnis wusste … Matthew Borrow, der Atheist, der ganz in dieser Welt lebte. Seiner Meinung nach brachte das Geheimnis mehr Ärger ein, als es wert war. Wenn er es überhaupt gekannt hatte. Jedenfalls achtete er es so gering, dass er es mit seiner Frau begraben ließ. Merlins Geheimnis. Begraben.
Aber nun nicht mehr.
†
Wir setzten uns am Rande des schmalen Plateaus auf dem Gipfel des Tor nieder. Vielleicht genau an der Stelle, wo Joan Tyrre mit Cate Borrow gesessen hatte, und es fiel mir schwer, ruhig zu bleiben. Wenn ich wirklich ein Zauberer gewesen wäre, hätte ich den Geist des verrückten Leland beschwören können, damit er uns half. Aber wenigstens besaß ich seine Aufzeichnungen und wusste, wie er dachte.
Und so begannen wir über Artus zu sprechen, von dem manche behaupten, er sei ein Nachkomme von Brutus dem Trojaner, dem ersten König Britanniens. Artus war Lelands große Leidenschaft gewesen. Ganz gleich, wohin ihn seine Reisen führten, überall entdeckte er Spuren seines Helden. Und er hatte auch die berühmte Behauptung aufgestellt, dass die Erdwälle, die den Hügel von Cadbury umgaben – nur einen kurzen Ritt von hier entfernt –, zweifelsfrei bewiesen, dass dort Artus’ Camelot gestanden hatte.
«Jetzt wissen wir, warum er so viel Zeit in Somerset verbracht hat», sagte ich. «Und warum er nach dem Untergang der Abtei hierher zurückkehrte. Wegen
Artus
.»
«Vielleicht suchte auch er Artus’ Gebeine?»
«Das wäre zu profan. Diese Stadt repräsentiert die magischen Aspekte von Artus. Hierher brachten ihn die Feen in der Barke. Um hier zu sterben oder so lange zu ruhen, bis England ihn brauchte. Und
hier
– wo wir gerade sitzen – befand sich die Heimstatt seines Magiers. Merlin. Der schon vor Artus hier war und von dem er die Runde Tafel erhielt. Verstehst du jetzt?»
«Um ehrlich zu sein, nein», sagte Dudley.
«Nel Borrow hat gesagt, ihre Mutter wüsste nichts über den Heiligen Gral, aber sie soll einmal erzählt haben, dass die Runde Tafel noch hier zu finden sei. Sie ist zu einer von Glastonburys vielen Legenden geworden, denn Benlow hat mir ein kleines Stück davon angeboten.»
Ich grub meine Hand in ein Stück nackten Bodens, nahm mir etwas Erde und hielt sie Dudley hin.
«In Wahrheit aber ist
das
ein Stück davon.»
Dann holte ich die in Leder gebundenen Aufzeichnungen hervor und schlug sie auf. Als ich sie hochkant drehte,
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