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Die Gebeine von Avalon

Die Gebeine von Avalon

Titel: Die Gebeine von Avalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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große, blätterlose Bäume aufragten, drehte sich um und schaute mich an.
    «Kann man denn nur aus Büchern lernen?»
    Sie wandte sich wieder ab und bog in den Pfad ein.
    «Nein», gab ich zu. «Aber der Prozess des Lernens wird dadurch stark beschleunigt. Ist es nicht bemerkenswert, dass ein Mensch alles, was er in seinem gesamten Leben gelernt hat, am Ende in einem Buch weitergeben kann?»
    «
Alles,
was er gelernt hat?»
    «Das meiste zumindest.»
    Sie blieb an einer niedrigen Mauer mit einem Zauntritt stehen und wartete, bis ich hinaufgeklettert und auf der anderen Seite heruntergesprungen war. Ich reichte ihr meine Hand, um ihr herunterzuhelfen. Ihre Hand war unbekleidet, nicht wie die der Königin in ihrem Rosenblüten-Handschuh. Mich überkamen höchst beunruhigende Empfindungen, und ich ließ sie schnell wieder los, sobald Mistress Borrow hinabgestiegen war. Das Blut schoss mir in die Wangen, und ich wandte den Kopf ab.
    «Die Quelle liegt in dieser Richtung», sagte sie und zeigte auf einen Wald, durch den ein ausgetretener Pfad führte. Ich erwartete schon, ein spöttisches Lachen auf ihren Lippen zu sehen, als ich stattdessen plötzlich das laute Gekrächze von Krähen vernahm. Missmutig und voll böser Vorahnung schaute ich zu ihnen hinauf und erspähte so, durch eine Lücke zwischen den Baumkronen, einen grünen Hügel in der Form eines riesigen Maulwurfshaufens unmittelbar über uns.
    Wie ein Apfelstiel zeichnete sich auf seinem Gipfel ein Steinturm schwarz vor den Wolken ab.

XIV Wie absterbendes Fleisch
    D ie Wolken hinter dem hoch aufragenden Turm waren seltsam geformt und blendend weiß, der Hügel selbst war von einem leuchtenderen Grün, als man dies im Februar erwarten durfte. Der Anblick war ein Schock für die Sinne, und ich spürte eine seltsame Entfremdung, die mir gar nicht gefiel.
    Zwiespalt: Ein Teil von mir wünschte, den Gipfel des Hügels zu erstürmen, ein anderer zischte:
Kehr um.
    «So nahe bei der Stadt und trotzdem …», begann ich.
    «Kein Teil von ihr», sagte Mistress Borrow. «Dieser Ort gehört nicht zu Glastonbury, nur sich allein.»
    Wir standen am Waldrand. Aber kein Vogelgezwitscher war zu hören. Es herrschte absolute Stille. Ich konnte sehen, dass die Hänge des Hügels nicht glatt abfielen; Terrassenstufen umzogen ihn bis hinauf zum Gipfel, wie die Erdwälle, auf denen in der Heimat meiner Familie die Burgen gestanden hatten, bevor sie während der Glyndwr-Kriege niedergebrannt wurden. Aber keiner von jenen Erdwällen war so imposant, steil und verblüffend konisch in der Form. Der ganze Hügel wirkte vollkommen seltsam, als wäre er von Menschen – oder Engeln – zu einem ganz bestimmten Zweck
erschaffen
worden.
    Und eigentümlicherweise kam es mir vor, als würde etwas tief in mir diesen Ort bereits kennen.
    Wahrscheinlich von einem Kupferstich, den ich in einem Buch gesehen hatte.
    «Ein Erdbeben hat die Kirche also zum Einsturz gebracht», beendete ich das Schweigen.
    «Vor nahezu dreihundert Jahren. Allein der Turm blieb stehen. Nach dem Erdbeben wurde die Kirche zwar wiederaufgebaut, aber sie wirkte danach nie mehr glücklich damit, mehr als nur dieser Turm zu sein. Nach der Reformation und dem, was dort mit dem Abt geschehen war, wurde die Kirche aufgegeben, und die Glocken wurden weggeschafft. Nun ist es hier wieder so … wie manche behaupten, dass es ganz zu Beginn gewesen sei.»
    «Wie denn?»
    Ihre Augen funkelten.
    «Was hat das Erdbeben ausgelöst? Wurde die Kirche durch einen Akt Gottes bis auf die Grundmauern zerstört, oder war es das Werk des Teufels?» Sie deutete nach oben zum Turm, der nun durch unsere Nähe zum Hügel mehr steil als hoch vor uns aufragte. «Ist er nicht wahrhaftig zu einem Finger des Teufels geworden?»
    «Was meint Ihr damit?»
    Ein feiner Dunst wand sich um den Turm. Der weiße Himmel wirkte wie mit Ruß bestäubt. Als wäre der Turm der Kamin für ein Feuer, das im Inneren des Hügels brannte.
    «So wie ein Menhir», antwortete sie. «Ein Stein der Druiden? Es ist wohl bekannt, dass dieser Ort vor der Zeit unseres Erlösers eine druidische Kultstätte war. Man sagt sogar, Merlins Festung habe einmal dort gestanden.»
    Heftiges Pochen in meiner Brust.
    «Artus’ Merlin?»
    «Man erzählt weiter, dass sich im Hügel die große Halle des Feenkönigs befand, der zusammen mit den Höllenhunden als Wilde Jagd über den stürmischen Himmel ritt. Für die Strenggläubigen ist der Turm also wahrhaftig der Finger des Teufels.»

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