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Die Gebeine von Avalon

Die Gebeine von Avalon

Titel: Die Gebeine von Avalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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Vaters?»
    «Und in die meiner Mutter», sagte sie. «Meine arme Mutter ist allerdings … schon eine ganze Weile tot.»
    Das Tor öffnete sich. Dahinter befand sich ein Grünstreifen, der von einem Dutzend Gänse halb abgegrast war, und dahinter wiederum die Hauptstraße des Ortes. Ich folgte Mistress Borrow auf einen Pfad, der neben der Straße herlief.
    «Eure Eltern waren beide Ärzte?»
    «Mein Vater ist es immer noch – der beste Arzt in ganz Westengland. Eigentlich wäre
er
mit Master Cowdray zu Eurem Freund gekommen, aber er wurde ans Bett einer alten Frau gerufen, die an der Schwelle des Todes steht. Nein, meine Mutter hat nur Kräuter angebaut. Mein Vater benutzt sie für seine Medizin.»
    «Und nun baut Ihr sie für ihn an?»
    «Ich borge sie mir … vom Land.»
    Die beiden waren also keine Ärzte, wie ich sie aus London kannte. Es klang eher, als hätte ein Heiler eine Kräuterkundige geheiratet. Mir gefiel die Vorstellung, aber das konnte Mistress Borrow nicht wissen.
    Vor uns, grau wie Asche, erhob sich ein hoher, eleganter Turm. Die Kirche des heiligen Johannes des Täufers, wie ich vermutete. Ich hatte in Vorbereitung auf meine Reise von ihr gelesen. Leland beschrieb sie als
wunderschön und lichtdurchflutet
.
    «Welch stolzer Turm», stellte ich fest.
    «Vor einem Jahrhundert von Abt Selwood erbaut.»
    «Und wer ist heute für die Kirche zuständig?»
    «Wer ist denn heutzutage überhaupt noch für irgendeine Kirche zuständig?»
    Gesenkten Hauptes schritt sie weiter aus, das braune Haar flatterte hinter ihr im Wind, keine Haube und kein Netz beraubten es seiner Freiheit. Wir durchquerten den Friedhof und kamen dann schließlich wieder auf die Hauptstraße, wo ein Bäcker sich reger Kundschaft erfreute, während daneben ein Mann mit einem Karren voller Schaffelle weniger Glück hatte. Ich folgte Mistress Borrow die Straße hinauf, die hügelaufwärts an einer Baustelle neben der Abteimauer vorbeiführte. Ganz offensichtlich wollte man die Mauer als Rückseite für neue Gebäude nutzen. Im Augenblick arbeitete dort niemand, und ich musste daran denken, was Cowdray gesagt hatte:
    Wer sich Steine aus der Abtei holt, um sein Haus zu reparieren, soll sieben Wochen lang jeden Morgen auf den Knien Buße tun. Oder das Haus findet keinen Frieden.
    Mistress Borrow hatte vorhin im Gasthaus eher skeptisch gewirkt, was das anging. Ich holte sie wieder ein.
    «Der Geist von Abt Whiting … Ihr glaubt wohl nicht, dass jemand ihn wirklich gesehen hat?»
    «Das habe ich nicht behauptet. Vielmehr wollte ich damit sagen, dass man mit solchen Gerüchten die Leute davon abhält, noch mehr Steine zu stehlen.»
    «Dann glaubt Ihr also
doch
, dass er erschienen ist?»
    «Es würde mich nicht wundern. Der arme Mann dürfte kaum in Frieden ruhen. Da ich mich in der Ruine der Abtei aber nicht herumtreibe, kann es mir egal sein.»
    «Ihr klingt nicht, als mache Euch die Vorstellung Angst.»
    «Nein, denn ich kannte den Abt. Seit … seit ich ein ganz kleines Kind war. Ich kann mich erinnern, wie meine Mutter und ich ihn einmal nicht weit entfernt von hier in der Stadt trafen. Er hielt an, um mit uns zu reden. Sein Gesicht … er hatte viele Lachfalten, und seine Augen wirkten so freundlich …» Sie schaute zu mir auf. «Ich glaubte lange, ich hätte in das Gesicht Gottes geblickt.»
    «Wie alt wart Ihr?»
    «Drei oder vier.»
    Leute gingen an uns vorbei und betraten die graue Kirche des heiligen Johannes. Am Straßenrand davor zupfte ein junger Mann an einer verstimmten Laute, und ein anderer schlug dazu auf eine mit Ziegenhaut bespannte Trommel, während um sie herum die Hühner im Dreck pickten. Einen Augenblick lang kam es mir so vor, als ob ich eine Szene aus einem Theaterstück sah und die Leute das alles nur spielten. Als fände das wahre Leben hier ganz woanders statt.
    «Wenigstens ist die Kirche noch in täglichem Gebrauch, im Gegensatz zur Abtei», sagte ich. «Besitzt sie auch eine Bibliothek?»
    «Ich weiß es nicht. Sollte sie das denn?»
    «Es sollte überall eine Bibliothek geben.»
    «Warum?»
    Nachdem wir die Stadtmitte nun hinter uns gelassen hatten, ging Mistress Borrow schneller.
    «Nun ja …» Ich war außer Atem, weil ich versuchte, mit ihr Schritt zu halten. «Allein durch Bildung dürfen wir darauf hoffen, eines Tages …»
    Aus irgendeinem Grund fehlten mir die rechten Worte. Ich kam mir dumm vor. Und unfähig. Mistress Borrow blieb vor einem schmalen Pfad stehen, an dem links und rechts

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