Die Geburt Europas im Mittelalter
15. Jahrhunderts: «Das äußerste Ende von Spanien und der Anfang von Indien sind nicht sehr weit entfernt, sondern nahe, und es ist offensichtlich, dass man dieses Meer bei günstigem Wind in wenigen Tagen überqueren kann.»
Christoph Kolumbus ist wohl das beste Beispiel für diese in mittelalterlichen Vorstellungen verhafteten Mentalitäten, deren Irrtümer aber vielleicht ein großer Ansporn für die Entdeckungen waren. Kolumbus glaubte, die Kanarischen Inseln seien nicht weiter als 5000 Seemeilen von China entfernt, während es doch in Wirklichkeit 11.766 Seemeilen sind. Das Europa des Atlantik-Abenteuers und der großen Entdeckungen war ein zutiefst mittelalterliches Europa.
Resümee
Aus der Sicht des beginnenden 21. Jahrhunderts erscheint Europa am Ende des 15. Jahrhunderts – wohlgemerkt ist «Jahrhundert» ein Begriff, der erst am Ende des 16. Jahrhunderts erfunden wurde – wie von einer neuen Spannung zerrissen. Einerseits kündigen sich die inneren Belastungsproben an, denen Europa entgegensieht: die Italienzüge, der Bauernkrieg in Deutschland, die lutherische und die calvinistische Reformation. Andererseits locken die Schimären ferner Horizonte und eröffnen verheißungsvolle Perspektiven in Afrika, auf dem Indischen Ozean und in der uns bekannten Neuen Welt, die schon bald auf den Namen Amerika getauft werden sollte. Weist dieser Moment so viel Neues, so viele Brüche auf, dass man mit Recht annehmen kann, der Übergang von einer langen Periode der europäischen Menschheit zu einer anderen sei gekommen, dass man das Mittelalter für beendet halten müsste?
Aus der historischen Distanz kann man das 15. Jahrhundert in der Tat als den Beginn einer anderen langen Periode betrachten, die «Neuzeit» genannt worden ist. Doch ehe wir die Reflexion über die mittelalterliche Geburt Europas beschließen, müssen wir uns fragen, ob das Mittelalter in diesem Moment wirklich zu Ende war und wie die Beziehungen zwischen diesem Mittelalter und dem Aufbau Europas einzuschätzen sind. Ich habe mich an anderer Stelle für ein «langes Mittelalter» ausgesprochen, das der historischen Realität besser gerecht würde. Sicher weist jede Periode «eine Koexistenz ungleichzeitiger Elemente» auf, wie der große polnische Historiker Witold Kula treffend gesagt hat, und ich bemühe mich, den Ausdruck «Krise», hinter dem sich oft ein mangelndes Bemühen um die Analyse gesellschaftlicher Veränderungen verbirgt, so wenig wie möglich zu gebrauchen. Ich glaube jedoch, dass es Wandlungen und Wenden gibt. Die Frage ist also: Hat es am Ende des 15. Jahrhunderts einen Wandel, eine Wende gegeben? Genau hier kommt das meines Erachtens unglücklich gewählte, aber vonglücklichem Erfolg gekrönte Wort «Renaissance» ins Spiel, das der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt gegen Ende des 19. Jahrhunderts vorgeschlagen hat.
Zunächst sei daran erinnert, dass man auch andere Momente des Mittelalters als «Renaissance» bezeichnen kann und tatsächlich bezeichnet hat, besonders in der Karolingerzeit und im Lauf des 12. Jahrhunderts. Dann sollten wir noch einmal nachfragen, was diese Renaissance charakterisiert. Man hat sie mit Recht hauptsächlich in den Bereichen der Kunst und des Denkens angesiedelt. Aber war die Kunst nicht, zumindest in Italien, seit dem 13. Jahrhundert in einer Renaissance begriffen, und hat der für die Renaissance charakteristische Humanismus nicht bereits im 14. Jahrhundert begonnen?
Gehen die Grundphänomene in den wichtigsten Bereichen der europäischen Gesellschafts- und Kulturgeschichte nicht weit über das besagte Ende des 15. Jahrhunderts hinaus? Die Schwarze Pest, die sich zwischen 1347 und 1348 in Europa ausgebreitet hat, kehrte in verheerenden Zügen bis 1720 wieder. Marc Bloch hat den der mittelalterlichen Königsmacht inhärenten Ritus der heilsamen Berührung durch die «wundertätigen Könige» untersucht, der im 11. Jahrhundert auftauchte, seit dem 13. Jahrhundert in Frankreich und in England gepflegt wurde und in England bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts, in Frankreich sogar bis 1825 Bestand hatte, obwohl er von der Mehrheit als überholt empfunden wurde.
Und es gibt noch schlagendere Beispiele. Wir haben gesehen, wie wesentlich der Aufschwung der Städte im Mittelalter war und welche Bedeutung er für Europa besaß. Bernard Chevalier hat die wichtigsten Städte untersucht, die in Frankreich als so genannte «gute Städte» mit dem Königtum verbunden waren. Er hat
Weitere Kostenlose Bücher