Die Geburt Europas im Mittelalter
hatte Kastilien zwischen 1470 und 1483 die Eroberung der Kanarischen Inseln abgeschlossen. König Alfons V. von Portugal war ein Verfechter des anderen, nordafrikanischen Programms. Er interessierte sich nur noch für Marokko, wo er 1471 Tanger einnahm, und für das Abenteuer einer Vereinigung mit Kastilien, das scheiterte.
Die spanische und vor allem portugiesische Expansion an den Küsten Afrikas muss im Kontext einer größeren Bewegung angesiedelt werden, die dazu führte, dass sich der Blick der Europäer vom Mittelmeer auf den Atlantik richtete. Die Wirtschaftsaktivität und die Unternehmungen, in denen sich Gewinnsucht, Missionierungswünsche und Abenteuergeist vermischten, hatten Portugal und den Westen Andalusiens in denVordergrund der europäischen Bühne gehoben. Lissabon und Sevilla wuchsen zu mächtigen Geschäftszentren heran, die nicht nur dem Atlantik, sondern auch Europa zugewandt waren.
Die Schiffe und die Seefahrt: Fortschritt und Rückständigkeit
Das Interesse am atlantischen Horizont Europas und an dem, was dahinter lag, war erst durch die Fortschritte der Seefahrt und des Schiffbaus möglich geworden. Die entscheidenden Neuerungen hatte das 13. Jahrhundert gebracht: die Ablösung des Seitenruders durch das Heckruder, das die Schiffe manövrierfähiger machte und ihnen bessere Stabilität verlieh; und die Einführung des viereckigen Rahsegels, dessen Segelfläche mit Hilfe verschiedener, an den Ecken befestigter Taue vergrößert oder verkleinert werden konnte. Aber die systematische Entwicklung dieser Techniken erfolgte erst seit dem 14. und vor allem im 15. Jahrhundert. Europa hatte sich auf die Suche nach erhöhter Produktivität des Seetransports begeben. Wie Jean-Claude Hocquet gezeigt hat, sind alle dreißig oder vierzig Jahre Modifikationen bei den eingesetzten Schiffstypen und dem Aufbau der Flotten zu beobachten, die geeignet waren, Leistungsfähigkeit und Einsatzmöglichkeiten zu verbessern. Ein wesentlicher Fortschritt bestand in der kombinierten Dreiecksund Vierecksbesegelung, die es erlaubte, bei jedem Wind zu segeln, ohne überwintern zu müssen. Das stolzeste Ergebnis der neuen Techniken war die Karavelle, die als Mythos in das europäische Gedächtnis eingegangen ist. Die Karavelle hatte nicht nur einen, sondern drei Masten. Ihre Außenhaut bestand aus glatten, sich nicht überlappenden Planken, und ihre Ladefähigkeit betrug vierzig bis sechzig Tonnen. Aber der größte Vorzug war ihre Geschwindigkeit. Von den drei Schiffen, die Christoph Kolumbus auf seine Entdeckerfahrt nach dem künftigen Amerika mitnahm, waren zwei Karavellen, die
Niña
und die
Pinta
. Die plötzlich weltweite Präsenz derjenigen Staaten, die in der Lage waren, ihre Schifffahrt vom Mittelmeer auf den Atlantik umzustellen, Spanien und Portugal, wurde vom Papsttum mit einem Privileg gekrönt. Im Jahr 1493 beschloss der Borgia-PapstAlexander VI. durch die Bulle
Inter aetera
, dass die neu entdeckten Gebiete, die sich noch nicht im Besitz christlicher Fürsten befanden, Spanien und Portugal gehören sollten, aufgeteilt nach einer Trennungslinie, die in Nord-Südrichtung westlich der Azoren durch den Atlantik verlief. Ein Jahr später, 1494, einigten sich Spanien und Portugal im Vertrag von Tordesillas, die von Alexander VI. vorgegebene Trennungslinie weiter nach Westen zu verschieben. So begann die Aufteilung der Welt zwischen den Europäern, die als das Ende des Mittelalters und Beginn der Neuzeit betrachtet werden kann.
Dennoch darf man nicht vergessen, dass die maßgeblichen Mentalitäten und Einstellungen bei dieser Aneignung der Welt ganz von mittelalterlichen Vorurteilen und Unwissenheit geprägt waren. Was die Menschen sich auf der anderen Seite des Atlantik und im Süden Afrikas vorstellten, waren keine neuen Gebiete, sondern im Gegenteil, uralte Lande, die der mittelalterlichen Phantasie entsprungen waren. Jenseits des Kaps der Guten Hoffnung lag das Land von Priesterkönig Johannes, dem sagenhaften Herrscher einer Wunderwelt. Jenseits des Atlantiks machte man sich auf die Suche nach dem alten Orient, nach China. Und vor allem war die europäische Kartographie in dieser Zeit trotz mancher Fortschritte noch so irreführend und obendrein in Mythen und Märchen verstrickt, dass man all die Ziele der Erkundungs- und Entdeckungsfahrten in naher Reichweite vermutete. Christoph Kolumbus schrieb in seinen Anmerkungen zu dem sehr ungenauen
Imago mundi
von Pierre d’Ailly aus den ersten Jahren des
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