Die Geburt Europas im Mittelalter
definierte institutionelle Strukturen besaßen, waren faktisch ein frühes Gesicht der drei noch fernen Nationen des modernen, zeitgenössischen Europa: Frankreich, Deutschland und Italien. Das gibt zu denken, wenn man die langsame historische Entwicklung Europas betrachtet. Sehr früh schon haben sich im europäischen Raum Mächte gebildet, die den anderen überlegen waren. Und so wird der heutige Aufbau Europas mit den Ansprüchen einer deutsch-französischen Bruderschaft konfrontiert, die für die Stabilität in Europa sicher notwendig ist, aber zu Ungleichheiten und Eifersucht innerhalb der europäischen Gemeinschaft führt.
III. Das erträumte und das mögliche Europa des Jahres Tausend
Das kaiserliche Europa der Ottonen
In der Mitte des 10. Jahrhunderts wurde der kaiserliche Einheitstraum Karls des Großen vom deutschen König Otto I., Sohn Heinrichs I. und der hl. Mathilde, wieder aufgegriffen. Nachdem Otto 936 in Aachen zum König gekrönt worden war, konnte er verschiedene Gebiete im Reich annektieren und Einfälle siegreich abwehren, so auch 955 in der Aufsehen erregenden Schlacht auf dem Lechfeld gegen die Ungarn. Im Jahr 962 setzte Papst Johannes XII. ihm in Rom die Kaiserkrone auf. Um die Beziehungen zum Byzantinischen Reich zu verbessern, gleichzeitig aber auch seine Ebenbürtigkeit zu demonstrieren, hielt er für seinen Sohn um die Hand der byzantinischen Prinzessin Theophanu an, und um den slawischen Ländern ein Zeichen zu setzen, ließ er 968 das Erzbistum Magdeburg errichten, wo er nach seinem Tod 973 begraben wurde. Selbst wenn das von Otto geschaffene Reich im Lauf des Mittelalters an realer Macht verlor, begründete es im Gegensatz zum Reich Karls des Großen unter europäischen Gesichtspunkten doch eine Institution und eine Macht von langer Dauer. Der bezeichnende Name dieses Imperiums war «Heiliges Römisches Reich deutscher Nation» – ein Titel, der zuerst den sakralen Charakter des Reichs anzeigte, dann auf das Erbe des Römischen Reichs verwies und in Erinnerung rief, dass Rom seine Hauptstadt war, und schließlich die herausragende Rolle der Deutschen in der Institution betonte.
Die Idee Ludwigs des Frommen erfuhr darin eine gewisse Wiederbelebung und Verlängerung. Das Rückgrat des möglichen Europa erstreckte sich von Norden nach Süden, von der Nordsee bis zum Mittelmeer, bestehend aus den germanischen Gebieten und Italien. Die Alpen, die nie eine wirklicheBarriere zwischen Italien und Nordeuropa gewesen waren, wurden mehr denn je zu einem frequentierten Übergang zwischen dem Norden und dem Süden der «europäischen» Christenheit. Die kaiserlichen Heerfahrten nach Italien entwickelten sich im Mittelalter zu einer Art politischem Ritual. Es wurden Pässe angelegt, Hospize für Pilger gebaut, ein immer reger werdender Handel und die Zunahme menschlicher Beziehungen stärkten die Bedeutung der Alpen im Herzen des christlichen Europa. Als Hüter und Wächter über den Alpenverkehr – vor allem seit in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nördlich des Gotthard die Teufelsbrücke gebaut worden war – schlossen sich die Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden 1291 zur Schweizerischen Eidgenossenschaft zusammen, ein bescheidener und unerwarteter Keim der fernen europäischen Demokratie.
Das «neue Europa» im Jahr Tausend
Der Thronfolger Ottos I., Otto II., konsolidierte die Grundlagen des Reichs, und sein Sohn, der unmittelbar nach dem Tod des Vaters im Jahr 983 in Aachen zum König gekrönte Otto III., erschien der gesamten Christenheit als Träger einer glänzenden Zukunft. Dieser dreijährige König, der 1002 mit einundzwanzig Jahren starb, galt wegen seiner außergewöhnlichen Gaben und Ausstrahlung als
mirabilia mundi
, «Wunder der Welt». In Rom wurde ihm durch den im Exil befindlichen Adalbert von Prag und den von seinem Sitz vertriebenen Erzbischof von Reims, Gerbert von Aurillac, eine glänzende Ausbildung zuteil. Gerbert war ein für seine Zeit ungewöhnlicher Gelehrter, der in Katalonien unter dem Einfluss der Araber hervorragende Kenntnisse in Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie erworben hatte. Nachdem er 999 mit Unterstützung des Kaisers Papst Silvester II. geworden war, entwarf er gemeinsam mit seinem kaiserlichen Schüler ein ehrgeiziges Programm, das der europäischen Christenheit zum Aufstieg verhelfen sollte. Aleksander Gieysztor hat wunderbar gezeigt, welch wesentlichen Platz die Slawen und Ungarn in den Plänen Ottos III. und
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