Die Geburt Europas im Mittelalter
das Prinzip der Interpunktion ein. Karl der Große ließ auch die biblischen Texte neu bearbeiten. Dieses Bemühen um Richtigstellung und Verbesserung, das die zahlreichen Bibelauslegungen im mittelalterlichen Abendland anregen sollte, trug wesentlich dazu bei, die Achtung vor dem Urtext der Heiligen Schrift mit der Legitimität von Verbesserungen auszusöhnen, die dem Fortschritt des Wissens und der Bildung zu verdanken waren.
Die karolingische Renaissance ist heute noch allgegenwärtig, vor allem durch den Reichtum an Buchmalereien. Ihre Meisterwerke sind entweder Evangeliare oder Psalter. Die Vorliebe für die Psalmen, die sich durch das ganze Mittelalter zieht, lässt in Europa eine dauerhafte Neigung zur biblischen Poesie entstehen.
Erwähnenswert scheint mir auch eine Mode zu sein, die sich ohne besonderen karolingischen Einfluss, aber zur gleichen Zeit entwickelt hat und über das Mittelalter hinaus bis in unsere Zeit lebendig geblieben ist. Nach dem 6. Jahrhundert hatte die Apokalypse des Johannes, die nicht widerstandslos in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen worden war, kaum noch die Aufmerksamkeit des Klerus und der Gläubigen erregt. Gegen Ende des 8. Jahrhunderts kehrte sie durch das Werk eines Gelehrten schlagartig ins Bewusstsein zurück. Es handelt sich um den Apokalypse-Kommentar des Mönchs Beatus, verfasst um 780 in dem bei Santander gelegenen Kloster von Liébana. Im 9. und 10. Jahrhundert mehrten sich die illustrierten Abschriften dieses Kommentars. Viele der Illustrationen beweisen das künstlerische Genie der Miniaturmaler des Abendlands, Angst und Schrecken auszudrücken. Beatus hat Europa seinen ersten Thriller geschenkt.
Das 9. Jahrhundert war auch für die Zukunft der religiösen Architektur im Abendland von entscheidender Bedeutung. Zwei Innovationen sollten als erstrangiges Erbe in die europäische Architektur eingehen: zum einen die Einführung des Querschiffs alssymbolischer Bestandteil des Kreuzes, das in den längsgerichteten Grundriss der alten römischen Basilika integriert wird und um 800 in Saint-Maurice-d’Agnaune, im Kölner Dom und in der Kathedrale von Besançon auftaucht. Um die gleiche Zeit bringt die Abtei Saint-Riquier eine andere, sehr erfolgreiche Neuerung hervor: das Westwerk, das mit seinen Türmen die Portale der romanischen und gotischen Kirchen ankündigt. Modellbauten werden errichtet: die Abtei Saint-Denis, das Kloster Fulda, die Aachener Kaiserpfalz und die Pfalzkapelle. Auftraggeber und Werkstätten begeben sich auf Wanderschaft, und Baumeister, die später Künstler sein werden, schmücken das künftige Europa mit Bauwerken, die sich gegenseitig beeinflussen.
Frankreich, Deutschland, Italien: das Herz Europas?
Die Einheit des Reichs wurde, wie mehrere Quellen bezeugen, im Wort «Europa» zusammengefasst. Das
Carmen de Carolo Magno
bezeichnet Karl den Großen als «das ehrwürdige Haupt Europas» und den «Vater Europas». Karl hatte seinen Sohn Ludwig schon 781 zum König von Aquitanien eingesetzt und hinterließ ihm das gesamte Reich, als er 814 starb. Unfähig, dem Druck seiner Söhne standzuhalten und die Regierungsprobleme eines Großreichs zu lösen, verfiel Ludwig der Fromme wieder auf die Teilung des Frankenreichs unter seinen Söhnen. Diese Teilung wurde nach seinem Tod durch das Bündnis zwischen Karl dem Kahlen und Ludwig dem Deutschen bekräftigt und Schritt für Schritt konkretisiert, erst durch die Straßburger Eide (842), den ersten offiziellen Text, der sich der Volkssprachen bedient, auf der einen Seite altfranzösisch, auf der anderen althochdeutsch; dann durch die Teilungsverträge von Verdun (843) und Minden (844). Nach diesen Auseinandersetzungen zeichnete sich eine Umgestaltung des Westens in zwei Regionen ab, ein Westfrankenreich und ein Ostfrankenreich, bewohnt von zwei Völkern, die Franzosen und Deutsche werden sollten. Dazwischen schob sich von Norden nach Süden ein lang gestreckter dritter Teil, der die beiden Hauptstädte Aachen und Rom einschloss – ein Mittelreich aus Lotharingien und Italien. Lotharingien erwies sichbald als ein künstliches Gebilde, das schwer aufrechtzuerhalten war.
Die territoriale und politische Realität war das Aufkommen von drei herausragenden Regionen, die in einem Text aus dem 9. Jahrhundert
prestantiores Europae species
, die «drei vorherrschenden Teile Europas» genannt werden: Italien, Gallien und Germanien. Diese Realitäten, die weder eine genau begrenzte Identität noch wohl
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