Die Geburt Europas im Mittelalter
und die Nordsee bis hin nachGrönland umfasst. In Island entsteht aus der ursprünglichen, um einige Familien gescharten Gesellschaft eine plutokratische Oligarchie unter Führung einer zentralen Volksversammlung, dem
Allthing
. Gegen Ende des 10. Jahrhunderts nehmen die Isländer das Christentum an und geben sich im Jahr Tausend eine Verfassung. Von den Dänen weitgehend unabhängig geblieben, bringen sie im Lauf des Mittelalters eine der brillantesten Literaturgattungen des Abendlands hervor, die
Sagas
. So entwickeln sich im äußersten Nordwesten des europäischen Raums eine vom Meer lebende Gesellschaft und eine Kultur, die für die mittelalterliche Christenheit eine einzigartige Bereicherung bedeuten.
Unterdessen versuchten die Dänen seit Ende des 10. Jahrhunderts, England einzunehmen, was ihnen vorübergehend gelang. Von 1018 bis 1035 war Knut der Große zugleich König von England und von Dänemark, das er systematisch mit Klöstern ausstattete und dem Christentum zuführte. In Norwegen trieb König Olaf Haraldsson der Heilige während seiner Herrschaft von 1016 bis 1030 die Christianisierung voran, die Olaf Tryggvason, König von 995 bis 1000, begonnen hatte. Olafs Kanonisation zeugt vom Wirken des Papsttums, das die Bekehrerkönige mit Heiligsprechung belohnt. Bei den von konvertierten Bekehrerkönigen geführten Völkern gehörte auch das mit zum Eintritt in die Christenheit. In Schweden war Olaf Eriksson «Schoßkönig» zu Beginn des 11. Jahrhunderts der erste christliche König. Um das Bild vom Anschluss der Skandinavier an die Christenheit abzurunden, sei schließlich an die Normannen erinnert, die sich unter der Führung Rollos in der gallischen Normandie angesiedelt hatten und kollektiv dem Christentum beitraten, als die Karolinger ihnen als Gegenleistung für ihre Unterwerfung das künftige Herzogtum überließen. Mit dem Segen des Papstes nahm Wilhelm der Eroberer Britannien ein und setzte 1066 in der Schlacht von Hastings dem angelsächsischen Königtum ein Ende. Damit waren die Nordmänner des Abendlandes Teil der Christenheit, des späteren Europa, geworden.
Die Ungarn in Mitteleuropa gingen eigene Wege bei ihrem Eintritt in die Christenheit. Sie waren insofern ein Sonderfall, als sie weder eine romanische, noch eine germanische oder eineslawische Sprache sprachen. Diese Eigentümlichkeit hat sich bis heute gehalten und liefert einen beispielhaften Beweis dafür, dass sprachliche Unterschiede – unabhängig von der großen Bedeutung der Sprachen, von der noch die Rede sein wird – kein wesentlicher Hinderungsgrund für die Bildung einer kulturellen oder politischen Einheit sind. Die Schweiz wird ein anderes Beispiel abgeben.
Im Zuge einer langen Migration aus Asien gekommen, siedelten sich die Ungarn im Karpatenbecken an, wo sie gegen Ende des 9. Jahrhunderts einen Halbnomadenstaat unter Führung des Fürsten Árpád errichteten. Von dort unternahmen sie blutrünstige Streifzüge im mitteleuropäischen Raum, bis Kaiser Otto I. ihnen 955 auf dem Lechfeld eine vernichtende Niederlage zufügte. Danach wurden die Ungarn verschiedenen Christianisierungskampagnen unterzogen, die sowohl aus dem Osten als auch aus dem Westen kamen. Schließlich machten die römischen Missionare das Rennen – Deutsche, Italiener und Slawen, die bereits zum Christentum übergetreten waren. Am König von Ungarn, Stephan dem Heiligen, lässt sich gut ablesen, wie wichtig die Völkervermischung bei der Bildung eines christlichen Europa war. Stephan erfuhr vielfältige Einflüsse, den des Erzbischofs Adalbert von Prag, ursprünglich Vojtech genannt, den seiner Frau Gisela, einer Bayerin, Schwester Kaiser Heinrichs II., und den des ungarischen Bischofs Gellért Csanád – auch als hl. Gerhard bekannt –, der seine Ausbildung im venezianischen Kloster San Giorgio Maggiore genossen hatte. Gellért organisierte die junge ungarische Kirche und erlitt bei dem heidnischen Aufstand von 1046 den Märtyrertod. Im Jahr Tausend gründete der 995 getaufte Stephan die Benediktinerabtei Pannonhalma auf dem Martinsberg, dem vermeintlichen Geburtsort des hl. Martin. Er richtete zehn Bistümer ein, erließ Dekrete, durch die alle Dörfer zum Bau einer Kirche verpflichtet wurden, und verfasste einen Fürstenspiegel in lateinischer Sprache: den
Libellus de instructione morum
, der für seinen Sohn und Thronfolger Emmerich bestimmt war, der ebenfalls heilig gesprochen wurde. Aus diesem außergewöhnlichen Geschlecht heiliger
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