Die Geburt Europas im Mittelalter
Gegenteil, von Anfang an zum Bestandteil ihrer Lehre gemacht hatte, in den eroberten Gebieten jedoch recht weitgehende Toleranz übte.»
Zweites Paradoxon: «Die Kreuzzüge sind das Ergebnis einer übermäßig ausgedehnten christlichen Rückeroberungsbewegung, die, in Spanien beginnend, dort die Züge eines heiligen Krieges annimmt, die erst verstärkt werden, als Jerusalem und das Heilige Grab als Ziel der Rückeroberung hervortreten. Doch während diese Rückeroberung im Westen vollständig gelingt, scheitert sie im Nahen Osten, wo sie einen muslimischen Gegenschlag auslöst, der 1453 zur Einnahme Konstantinopels und zur osmanischen Bedrohung Osteuropas führt.»
Drittes Paradoxon: «Ursprünglich hatte der Kreuzzug denChristen im Orient, an der Wiege des Christentums, Hilfe leisten und das Byzantinische Reich dabei unterstützen sollen, die von den Muslimen eingenommenen Gebiete zurückzugewinnen, um die Einigung der Kirchen zu ermöglichen. Aber die Kreuzzüge haben ihre Entzweiung verschärft und besiegelt.»
Viertes Paradoxon: «Der von Urban II. gepredigte Kreuzzug stellt sich als ein Krieg zur Befreiung Palästinas und eine Pilgerfahrt zum Heiligen Grab dar. Doch dieser Krieg wird umgemünzt und in den Dienst zahlreicher Kämpfe der Kirche oder vielmehr des Papsttums gestellt, nicht nur gegen seine äußeren Feinde, sondern auch gegen die inneren: Häretiker, Schismatiker und politische Rivalen.»
Wie mir scheint, haben die Kreuzzüge nicht nur die Beziehungen des christlichen Europa zum Islam und zu Byzanz verschlechtert. Heute rufen die Muslime, die den Christen in Sachen heiliger Krieg wahrlich nicht nachstehen, die Erinnerung an die Aggression der Kreuzzüge als historischen Vorwurf gegen die Christen wach. Doch über diesen Konflikt hinaus habe ich den Eindruck, dass die Kreuzzüge das Ende einer christlichen Illusion von Europa markieren – das Ende der Vorstellung, die Hauptstadt der Christenheit liege in Jerusalem. So gesehen war das Scheitern dieser Unternehmen eine ausgesprochen günstige Voraussetzung für die Einheit Europas. Es hat die räumliche Übereinstimmung von Europa und der Christenheit für lange Zeit festgeschrieben. Was Byzanz betrifft, so ist wohl wahr, dass die Kluft zwischen West- und Osteuropa, dem lateinischen und dem griechischen Europa, durch die Kreuzzüge gewachsen ist, vor allem seit 1204, als der vierte Kreuzzug von seinem Ziel Palästina abgelenkt wurde, um Konstantinopel zu erobern, die Stadt zu plündern und ein kurzlebiges lateinisches Kaiserreich zu errichten. Mir scheint, dass die negativen Wirkungen der Kreuzzüge auch Europa selbst, das Abendland betreffen. Weit davon entfernt, die christlichen Staaten zu verbinden, haben die Kreuzzüge ihre Rivalität geschürt. Man sieht es am Verhältnis zwischen Frankreich und England. Bezeichnend ist auch, wie die vitalen Kräfte Europas, die italienischen und katalanischen Kaufleute, nur marginal an den Kreuzzügen teilnehmen und ihre ökonomischen Interessen im Orient auf Nebengleisen oder eigenen Wegen vorantreiben.Europa dagegen verarmt an Menschen und Ressourcen. Vor langer Zeit habe ich einmal geschrieben, die Aprikose sei der einzige Gewinn, den die Kreuzzüge dem Abendland gebracht hätten. Dieser Meinung bin ich immer noch.
Die Kreuzzüge – erster Ausdruck der europäischen Kolonisation?
In der Perspektive der langen Dauer, die das vorliegende Buch verfolgt, bleibt eine wichtige Frage. War die mittels der Kreuzzüge erfolgte Gründung lateinischer Staaten und insbesondere eines lateinischen Königreichs Jerusalem im Nahen Osten der erste Ausdruck dessen, was ab dem 16. Jahrhundert unbestreitbar die europäische Kolonisation werden sollte? Hervorragende Geschichtswissenschaftler, namentlich der israelische Historiker Joshua Prawer, sind zu diesem Schluss gekommen. Ich glaube es nicht. Die lateinischen Staaten in Palästina haben nur sehr begrenzt als Kolonien zum Zweck der wirtschaftlichen Ausbeutung oder der Besiedlung gedient. Die ökonomische Macht der Mittelmeerstädte kam nicht durch die Kreuzzüge zustande, sondern meistens durch eine relativ friedliche Aneignung der byzantinischen und muslimischen Reichtümer. Die christliche Einwanderung in den Nahen Osten blieb schwach. Und während die neuzeitliche Kolonisation oft dazu geführt hat, dass die Bindungen zwischen Kolonien und Mutterländern sich lösten oder gar zerbrachen, haben solche Bindungen zwischen den Staaten des Heiligen Landes und den
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