Die Geburt Europas im Mittelalter
Aufschwung der Städte eine Vielzahl kleiner und mittlerer Städte sowie die Erweiterung einiger weniger «Großstädte» mit sich. Wir dürfen uns die mittelalterlichen Städte im lateinischen Europa nicht nach dem Muster moderner Metropolen oder der großen Städte im byzantinischen oder muslimischen Orient vorstellen. Eine bedeutende Stadt des Abendlands hatte nur zehn- bis zwanzigtausend Einwohner. Außergewöhnlich waren Palermo und Barcelona mit rund 50.000 sowie London, Gent, Genua und das auf islamischem Territorium gelegene Córdoba mit rund 60.000 Einwohnern. Bologna zählte sicher an die 70.000, Mailand 75.000 Bewohner. Nur Florenz und Venedig erreichten, ja überschritten vielleicht die Hunderttausend-Grenze, und die allergrößte Stadt war zweifellos Paris, wo um 1300 eine Bevölkerungszahl von mindestens 200.000 nachgewiesen werden konnte.
Städtische Literatur.
– Dieser Aufstieg und das Ansehen der Städte boten Stoff für eine Literatur, die – soweit es die Vervielfältigung und Weitergabe von Handschriften erlaubte – ebenfalls einen großen Erfolg hatte: die Stadtchroniken und das Lob der Städte. Zu einer Zeit, in der es für Berge oder Küsten keine Bewunderung gab und der Begriff Landschaft nicht einmal existierte, waren die Städte das einzige, was die Geographie den Europäern zur Bewunderung bot. Die Lobpreisungen der Städte galten ihrer zahlreichen Bevölkerung, ihren wichtigen wirtschaftlichen Aktivitäten, der Schönheit ihrer Bauwerke, den vielfältigen Gewerben, der Verbreitung der Kultur, der Zahl und Pracht der Kirchen, dem fruchtbaren Territorium – denn die Stadt war das beherrschende Zentrum inmitten einer ländlichen Umgebung – und schließlich einer oft legendären Vergangenheit mit Mythen von der Gründung und von Gründerheroen, die es schon in der Antike gegeben hatte und die im Mittelalter wiederbelebt wurden. Die Stadt war einer derWege, über die sich ein Sinn für die Geschichte, eine europäische Historiographie anbahnte. Neben den Klöstern wurden die Städte zum Hauptgegenstand einer noch unbeholfenen Geschichtsschreibung. Das bemerkenswerteste, das beispielhafteste dieser Werke, die zum Ruhm der Stadt verfasst wurden, ist sicher die lateinische Prosaschrift
De magnalibus urbis Mediolani
, «Von den großen Dingen der Stadt Mailand», des Mailänder Pädagogen Bonvesin de la Riva aus dem Jahr 1288.
Hauptstädte.
– Abgesehen von der Klassifizierung nach Bevölkerungszahlen gab es eine politisch definierte Hierarchie der Städte. Unter diesem Aspekt taten sich zwei Stadttypen hervor. Zum einen die Hauptstädte, die zum Sitz einer übergeordneten politischen Gewalt erkoren waren – ein Status, den im Mittelalter nur wenige Städte erreichten. Hinzu kommt, dass man damals unter Hauptstadt etwas anderes verstand als in der Neuzeit. Nehmen wir das Beispiel Londons. Das hervorragende Werk von G. A. Williams,
Medieval London from commune to capital
(1963), weist schon im Titel auf den Übergang von der Kommune zur Hauptstadt hin. Doch in den Augen der mittelalterlichen Menschen wurde nur die
City of Westminster
als Hauptstadt angesehen. Rom war ein anderer Fall und noch erstaunlicher. Obwohl die Römer den Papst oft aus der Stadt vertrieben hatten, war Rom der reguläre Sitz des Papsttums, und innerhalb Roms war der Vatikan mit der von Mauern umgebenen Leostadt, die Leo IV. im 9. Jahrhundert hatte errichten lassen, der Regierungssitz. Doch
caput mundi
, das heißt Hauptstadt, wurde Rom im Mittelalter lediglich nach den Gepflogenheiten der Reichskanzlei genannt, für die Rom, wo der Kaiser gekrönt werden musste, die Hauptstadt des Reichs und sogar der Christenheit geblieben war. Das höchste Ansehen erlangte Paris. Aber Paris verdankte seinen Erfolg nicht nur dem geduldigen Betreiben des Kapetingerhauses seit 987, sondern vor allem der Propaganda der königlichen Abtei Saint-Denis, die zugleich Grablege der Könige von Frankreich war. So erklärt sich, dass sogar die Chroniken von Saint-Denis, die man als ersten Ausdruck und Matrix des französischen Nationalgefühls bezeichnen kann, den Titel «Hauptstadt» ebenso für Saint-Denis wie für Paris verwenden. Tatsächlich bestand dieHauptstadt aus dem Duo Paris und Saint-Denis. Bis auf wenige Ausnahmen gab es im mittelalterlichen Europa keine Hauptstädte. Auch die Christenheit insgesamt hatte keine wirkliche Hauptstadt, nicht einmal Rom.
Die Stadtstaaten.
– Das Kennzeichen des zweiten Typs
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