Die Geburt Europas im Mittelalter
fortgeschrittener Städte bestand darin, dass sie sich zu eigenständigen Staaten entwickelten, wie es hauptsächlich in Italien vorkam. Yves Renouard hat für die italienischen Städte vom 10. bis zum 14. Jahrhundert drei Entwicklungsphasen beschrieben. Die erste bestand in der Errichtung aristokratischer Kommunen, die den Grafen und Bischöfen die Macht entrissen. Angesichts der Spaltungen des Macht habenden Adels in Fraktionen – der wichtigste Gegensatz war bekanntlich der zwischen Guelfen und Ghibellinen – folgte der Rückgriff auf einen auswärtigen Amtsträger, den Podestà, dem begrenzte Machtbefugnisse übertragen wurden. In der dritten Phase schließlich bildeten sich ständische Regierungen aus den Zünften und Korporationen der handwerklichen und kaufmännischen Elite: ein Regiment des
popolo grasso
, das bei den kleinen Leuten auf wachsenden Widerstand stieß. Überall, besonders in Genua, Mailand, Florenz, Venedig, ja sogar in Rom taten sich die Mächtigen durch ständige Fehden zwischen den Clans, den großen Familien, hervor. Die Politik dieser großen Familien und der von ihnen beherrschten Stadträte führte zur Ausdehnung der Territorialherrschaft auf das gesamte Umland der Städte, die allmählich zu Stadtstaaten heranwuchsen. Die schönsten Beispiele hierfür sind Venedig, Mailand und Florenz. Aber im mittelalterlichen Europa der Städte war das urbane Italien ein Grenzfall und eine Ausnahme. So residierten beispielsweise die adligen Italiener in den Städten, während die Aristokratie im übrigen Europa herrschaftliche Burgen auf dem Land bewohnte, auch wenn die Reichsten einen zweiten Wohnsitz in der Stadt besaßen.
Städte und Feudalwesen.
– Das Phänomen der mittelalterlichen Stadtentwicklung wurde oft in Gegensatz zum Feudalsystem gestellt, und viele haben in der mittelalterlichen Stadt einen zersetzenden Keim gesehen, ein Element, das dem Feudalwesenals solchem fremd und abträglich war. Rodney Hilton – einer von denen, die eine andere Position vertreten – hat für Frankreich und für England überzeugend dargelegt, wie sehr die mittelalterlichen Städte nicht nur den allgemeinen Feudalstrukturen Rechnung trugen, sondern Teil derselben waren. Man muss sich in der Tat genau ansehen, was das Mittelalter Europa hinterlassen hat, auch wenn das Feudalwesen durch die Französische Revolution weitgehend zerschlagen worden ist. Das mittelalterliche Erbe besteht in einer Ökonomie und einer Gesellschaft, die auf den Beziehungen zwischen Stadt und Land beruhen, wobei die Komplementarität und die wirtschaftliche Nutzung des Landes durch die Stadt mehr ins Gewicht fallen als der kulturelle Antagonismus. Die Städte haben sich dank der Zuwanderung von Bauern entwickelt, und sie wurden von mehr oder weniger bodenständigen Bauern bewohnt. Die Entfaltung der handwerklichen und ökonomischen Aktivitäten innerhalb der Städte speiste sich aus dem landwirtschaftlichen Überschuss. Die Stadtherrschaft ist von einer rein grundherrlichen Situation zu neuen Regierungsformen gelangt, die sich mit den feudalen Strukturen verbanden.
Die Persönlichkeit der europäischen Stadt
Zum Charakter der mittelalterlichen Stadt, wie er sich noch im modernen Europa findet, gehört vor allem die Herausbildung eines Gesellschafts- und Regierungstyps, der sich den feudalen Strukturen anpasst, aber doch bemerkenswerte Unterschiede zu ihnen aufweist und eine bestimmte Entwicklung durchläuft. Der Anfangspunkt dieser Entwicklung liegt im 11. Jahrhundert. Sie führte zum Ende oder wenigstens zu einer erheblichen Begrenzung der Stadtherrschaft der Bischöfe, die sich weltliche Aufgaben anmaßten, und der Grafen, die die Kaiser mehr oder weniger in den Städten eingesetzt hatten. Oft nahmen die Bischöfe übrigens selbst die offizielle Position der Grafen ein. Die städtischen Revolten verliefen meistens friedlich, nur in einigen Fällen kam es zu gewaltsamen Erhebungen, wie beispielsweise 1116 in Laon, als der mit gräflicher Autorität waltende Bischof von der aufgebrachten Volksmenge ermordet wurde. In der Regel gewährten die Stadtherren den Bürgern Privilegien in Form vonGewohnheitsrechten und Freiheiten. Was die Städter häufig verlangten und nicht immer bekamen, war eine Art Selbstverwaltung, die die Stadt zu einer so genannten Kommune werden ließ. Die traditionelle Geschichtsschreibung hat den Mythos einer kommunalen Bewegung in die Welt gesetzt, obwohl die fast vollständige Unabhängigkeit seitens der
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