Die Geburt Europas im Mittelalter
ausführten, die für den Seidenhandel zuständige
Arte di Por Santa Maria
und eine «Arte», in der Ärzte, Apotheker und Krämer zusammengefasst waren, alle, die mit den vielfältigen Produkten Handel trieben, die unter dem Namen «Gewürze» liefen – ein zeitgenössisches Handbuch listet 288 verschiedene Sorten auf. Für die Führungsschicht der städtischen Eliten wird häufig der umstrittene Begriff «Patriziat» verwendet. Sicher ist, dass die reichsten und mächtigsten Notabeln die mittelalterlichen Städte beherrschten, und es gibt keinen Zweifel, dass sie Kaufleute waren. Dennoch darf man nicht vergessen, dass der Reichtum der mittelalterlichen Städte nicht dem Handel, sondern dem Gewerbe entsprungen ist. Besonders klar tritt dieses Phänomen in Flandern hervor, der Region Europas, in der neben Nord- und Mittelitalien die Städte am meisten prosperierten. Auf die Frage «Kaufleute oder Weber?» hat der belgische Historiker Charles Verlinden treffend geantwortet: «Die Industrie ist der eigentliche Grund der demographischen Veränderung, in deren Folge es zur Entstehung und Entwicklung der flämischen Städte kam. Der dortige Handel ging aus der Industrie hervor, und nicht umgekehrt.»
Die Industrie: das war die Tuchmacherei. Die Textilverarbeitung hat ein Europa der Kaufleute geschaffen. Doch bevor wir auf die Kaufleute zu sprechen kommen, muss die mittelalterliche Stadt, die wichtigste Antriebskraft der europäischen Dynamik, noch besser zur Geltung gebracht werden.
Jerusalem oder Babylon?
Symbole haben im Mittelalter immer eine wesentliche Rolle gespielt, und entsprechend spielte sich der Kampf für oder wider die Stadt im 12. Jahrhundert innerhalb der biblischen Vorstellungswelt ab. Zwei unterschiedliche Erklärungen zeigen dies exemplarisch. Als die universitäre Welt der Magister und Scholaren, auf die wir noch zu sprechen kommen werden, in Paris immer mehr Anziehungskraft gewann, begab sich Bernhard von Clairvaux, der große Meister der Mönchskultur und überzeugte Verfechter der Einsamkeit, auf die Montagne Sainte-Genevièveund rief den Studenten zu: «Flieht aus der Mitte Babylons, flieht und rettet eure Seelen, eilt alle gemeinsam zu den Stätten der Zuflucht, welches die Klöster sind.» Dagegen schrieb der Abt Philippe de Harvengt einige Jahrzehnte später einem jungen Anhänger: «Getrieben von der Liebe zur Wissenschaft, bist du nun endlich in Paris und hast das von vielen begehrte Jerusalem gefunden.» Im 13. Jahrhundert hatte die Stadt Jerusalem die Stadt Babylon verdrängt, auch wenn im Spätmittelalter der Preis für die Verstädterung deutlich werden sollte.
Stadt und Demokratie?
Eine der sichtbarsten Belastungen war die soziale Ungleichheit. Dem
Popolo grasso
der Kaufleute und des Verbands der
Arti maggiori
stand das Volk der «Minderen», der kleinen Leute, gegenüber. Es waren die Reichen, die in den Räten saßen und die Stadt unter der Führung von Konsuln, wie im südlichen Europa, oder von Schöffen, wie im nördlichen Europa, regierten. Dennoch war die mittelalterliche Stadt nicht nur ein Zentrum ökonomischer Impulse, das durch Handwerk und Gewerbe, durch Märkte und Wechselstuben, die später Banken wurden, den wirtschaftlichen Aufschwung in Europa vorangetrieben hat, sondern aus gesellschaftlicher Sicht hat sie trotz der Zunahme kleiner und vor allem armer Leute, die immer zahlreicher wurden, auch erste Ansätze eines demokratischen Modells geschaffen. Roberto Lopez hat die europäische Stadt des Mittelalters mit der byzantinischen, in der Tradition der Antike stehenden, und mit anderen Städten verglichen: etwa mit der muslimischen Stadt, die gegenüber der
Umma
, der weit über die Stadtgrenzen hinausgehenden Gemeinschaft der Gläubigen, nie eine Einheit gefunden hat, oder auch mit der chinesischen Stadt, die kein Zentrum, keine Persönlichkeit, keine Autonomie besitzt. Er kommt zu dem Schluss, dass «die europäische Entwicklung des Stadtwesens insgesamt intensiver, vielfältiger, revolutionärer und, wenn man es so nennen darf, demokratischer verlaufen ist als irgendwo sonst».
Diese europäische Stadt war ein Zeichen des historischen Fortschritts in ganz Europa. Ausgehend von städtischen Kernen,die entweder an die grundherrliche Gewalt der Burgen gebunden waren oder an einen Markt, wie die
gorod
genannten Burgsiedlungen in Polen und den slawischen Ländern, haben sich die Städte in der ganzen europäischen Christenheit verbreitet, deren Kennzeichen und Triebkraft
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