Die Geburt Europas im Mittelalter
Städter außer in Italien selten erzielt wurde. Dagegen dienten die Statuten von Lorris, ein 1155 verliehenes Gewohnheitsrecht, zahlreichen Städten der französischen Krondomäne als Vorbild. Im Jahr 1147 gewährte der Graf von Toulouse den Toulousanern «Freiheiten», und 1198 gab er den Einwohnern von Nîmes eine Satzung für Konsularwahlen; der Erzbischof von Arles billigte 1142 und 1155 ein Konsulat und eine Ratsverfassung für die Stadt. In England verlieh Heinrich I. zwischen 1100 und 1135 Gewohnheitsrechte an Newcastle-upon-Tyne; Heinrich II. stattete London 1155 mit einem Königsprivileg und Dublin 1171–1172 mit einer Charta aus. In Italien musste der vom Lombardenbund besiegte Kaiser Friedrich Barbarossa den Städten Freiheiten zugestehen, die 1183 im Frieden von Konstanz ausgehandelt wurden. Und der König von Aragón erließ den Einwohnern von Barcelona 1232 sämtliche Warensteuern.
Diese Art Selbstverwaltung der Städter hat unter anderem zwei tiefe, dauerhafte Spuren in den europäischen Städten hinterlassen. Die erste ergibt sich aus dem Einsatz von
Juristen
, die meist keine großen Rechtsgelehrten waren – dieses Wissen erlangten sie erst später, an den Universitäten –, aber an den städtischen Schulen eine zugleich theoretische und praktische Ausbildung mit nahem Bezug zu den Alltagsproblemen der Stadtbevölkerung genossen hatten. Gewiss, diese Bewegung trug dazu bei, ein Europa der Schikanen und der Bürokratie zu schaffen. Aber sie sollte auch dazu verhelfen, dass die große juristische Umwälzung des 12. und 13. Jahrhunderts – eine Kombination aus der Erneuerung des römischen Rechts, der Ausarbeitung des kanonischen Rechts (das sich die wesentlichen Bereiche des Wuchers und der Ehe vorbehielt) und der schriftlichen Fixierung mündlich überlieferter feudaler Rechtsgewohnheiten – in die alltäglichen Umgangsformen einging.
Die zweite Spur bezieht sich auf die
Steuern
. Im Mittelalter waren die Abgaben, die Männer und Frauen zu entrichten hatten,unterschiedlicher Natur. Es gab Abgaben, die allein auf den Bauern lasteten und an den Grundherrn zu entrichten waren. Später – während des 13. Jahrhunderts allerdings noch kaum – gab es Steuern, die von den Monarchien im Umbruch zum modernen Staat erhoben wurden. Diese königlichen, heute würden wir sagen staatlichen Steuern haben bei der Stadtbevölkerung sehr bald wütende Proteste ausgelöst, wie es sie heute noch gibt. Aber am meisten fiel eine dritte Sorte von Abgaben ins Gewicht: die vielfältigen, meistens
tailles
genannten Steuern, die von den Städten erhoben und eingetrieben wurden. Das Europa der Steuererhebungen hat sich in erster Linie in den Städten ausgebildet. Die dort eingezogenen Summen waren zur Finanzierung von Werken bestimmt, die wir als gemeinnützig bezeichnen würden und die im 13. Jahrhundert auf die scholastische Lehre vom rühmlichen Streben nach dem Gemeinwohl verwiesen. Doch leider verwandelte sich dieses schöne Steuerreich schon bald in ein Reich der Ungleichheit und Ungerechtigkeit.
Die Gleichheit der durch einen Eid unter Gleichen verschworenen Stadtbürger – eben das sollte der Eid der Kommune sein, wenn es ihn denn gegeben hat – währte nur kurze Zeit. Sehr schnell prägten kleinere oder größere Ungleichheiten die mehr oder weniger autonome städtische Gesellschaft. So bildete sich eine Schicht von Notabeln oder, wie wir heute sagen würden, städtischen Eliten. Die Mitglieder dieser Eliten zeichneten sich mehr und mehr durch Reichtum aus, ein Vermögen, das in beweglichen oder unbeweglichen Gütern, aber auch in Bargeld bestand oder nach dem Vorbild der Kirchen in Kostbarkeiten aus Edelmetall investiert wurde. Die städtische Hierarchie trug außerdem der Zugehörigkeit zu altehrwürdigen Familien Rechnung. Unabhängig von Adelsgeschlechtern bildeten sich bürgerliche Genealogien, so dass relativ mittellose Städter, die aber von einem Vorfahren mit Ruf und Namen stammten, der Oberschicht angehören konnten. Schließlich gab es Berufe, die auch bei kargem Einkommen ein Prestige verschafften, denn die Berufsehre konnte Grundlage für eine Auszeichnung innerhalb der städtischen Gesellschaft sein. Solche Hochachtung floss vor allem Personen zu, die über juristisches Wissen verfügten und es kraft ihres Amtes in den Dienst der Stadt und der Bürger stellten.
In dieser Welt, in der handwerkliche oder kaufmännische Tätigkeiten und die Rechtspflege das Berufsleben bestimmten,
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