Die Geburt Europas im Mittelalter
13. Jahrhundert: das System der
pecia
. Vor der Zeit des Buchdrucks war die Reproduktion der Handschriften naturgemäß ein unerhörtes Problem. Oft musste die Urschrift mehrere Monate aus dem Gebrauch gezogen werden, um eine einzige Kopie zu erstellen. Seit dem Ende des 12. Jahrhunderts wurde in Bologna eine neue Abschreibetechnik erfunden, die im Lauf des 13. Jahrhunderts vor allem in Paris zur Blüte kam und sich auf eine neue Art der Textvorlage, das Exemplar, stützte. Louis-Jacques Bataillon hat die Technik der
pecia
folgendermaßen beschrieben: «Man vermietete dem Kopisten ein Exemplar, das in durchlaufend nummerierten, aus je zwei Doppelseiten bestehenden Lagen geschrieben war, die
peciae
genannt wurden. Der Schreiber holte sich diese ‹Stücke› eines nach dem anderen, so dass die übrigen Lagen anderen Schreibern zur Verfügung standen. Auf diese Weise konnten mehrere Kopisten zur gleichen Zeit am gleichen Text arbeiten, was die rasche Anfertigung einer weit größeren Anzahl von Kopien ein und desselben Werks erlaubte.» So gab es also zwei Jahrhunderte vor dem Buchdruck ein Europa der Kopisten. Dennoch wurde diese in Bologna, Padua, Paris, Montpellier, Neapel und Avignon viel benutzte Technik weder von England noch von den deutschen oder slawischen Ländern übernommen und in Paris nach 1350 wieder aufgegeben. Erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts setzte in Europa der große Aufschwung des Buchwesens ein.
Unterdessen hatte für das Buch mit dem Aufkommen neuer Leserschichten im 12. und 13. Jahrhundert eine neue Ära begonnen. Über die Magister und Scholaren hinaus tauchten immer mehr Laien in die Welt der Lektüre ein. Man kann also sagen, dass durch die Entwicklung des Buchwesens eine Laisierung der Christenheit erfolgte. Gewiss, Religion und Frömmigkeit nahmen weiterhin einen wichtigen Platz in den Handschriften ein. Doch im 13. Jahrhundert entwickelte sich beispielsweiseeine Art Andachtsbuch, das speziell an die Frauen gerichtet war. Wie die Schule diente das Buch also auch einer verbesserten Stellung der Frau. Hierbei handelte es sich um Stundenbücher, die einen Psalter mit verschiedenen Zusätzen enthielten: Marienstunden (daher die große Zahl an Leserinnen), einen Kalender mit Illustrationszyklen (Sternzeichen und Monatsbilder), Bußpsalmen, Heiligenoffizien und, verbunden mit der Verehrung der Toten und des Fegefeuers, eine Totenandacht. Die Stundenbücher, die aufgrund ihrer prachtvollen Illustrationen kostbare Wertgegenstände waren, blieben den Reichen und Mächtigen vorbehalten, während andere mit Miniaturen verzierte Handschriften weniger hergestellt wurde. Der universitäre Bedarf und die Zunahme nützlicher Bücher ließen das Buch als Kunstobjekt in den Hintergrund treten.
Enzyklopädische Werke
Ein anderer Buchtyp, der im 12. und vor allem im 13. Jahrhundert großen Erfolg hatte und das Wissen weiter in Richtung der profanen Kenntnisse und der Laienkultur vorantrieb, waren die Enzyklopädien. Dieser Aufschwung entsprach dem Interesse neuer Leserschaften und dem allgemeinen Zuwachs an Kenntnissen, einem Charakteristikum der Renaissance des 12. Jahrhunderts. Die Enzyklopädien boten einen Überblick über das gesamte Wissen von der Natur und der Gesellschaft.
Außer den Inhalten der Theologie versammelten sie in zunehmendem Maße die laisierten Kenntnisse der Philosophie. Neben dem Übernatürlichen und der Metaphysik lieferten die Enzyklopädien eine Gesamtdarstellung dessen, was über die Natur und die Physik im weitesten Sinne bekannt war.
Hugo von St. Victor bildet gewissermaßen den Ausgangspunkt dieser neuen enzyklopädischen Arbeiten. Besonders in seinem
Didascalion
vermischt er heilige und weltliche Wissenschaften, siedelt die Freien Künste und die Philosophie auf einer ersten Stufe des Wissens, die Hermeneutik oder Bibelauslegung auf einer zweiten an und vermengt Heils- und Profangeschichte. Deren Unterscheidung kommt erst in den Enzyklopädien am Ende des 12. und im Lauf des 13. Jahrhunderts auf. Wilhelm von Conches (um 1080–1154) hat schon in seinemWerk
De philosophia mundi
eine klare Grenze zwischen Philosophie und Physik im Sinne einer über die Medizin hinausgehenden Naturwissenschaft gezogen.
Alexander Neckam nimmt in
De naturis rerum
eine entschieden aristotelische Position ein, während Bartholomaeus Anglicus, der zwischen 1230 und 1240 eine der populärsten Enzyklopädien des 13. Jahrhunderts verfasste, Isidor von Sevilla mit
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