Die Geburt Europas im Mittelalter
umfangreichen Werk will ich hier nur zwei Summen nennen, die
Summa contra gentiles
(1259–1265) und sein Hauptwerk, die
Summa theologiae
, die er unvollendet hinterließ, als er 1274 im Alter von fünfzig Jahren starb. Ohne die Überlegenheit der Theologie in Frage zu stellen, setzte Thomas nach den Worten von Étienne Gilson «ein erstaunliches Vertrauen in die Macht der Vernunft». In der
Summa theologiae
treffen zwei theologische Welten zusammen, eine «von unten», die ausdrückt, was die Vernunft dem Menschen an Erkenntnis Gottes und der Welt erlaubt, und eine «von oben», die zeigt, dass die göttliche Wahrheit unabhängig vom Intellekt auf dem Weg der Offenbarung in den Menschen herabsteigt. Wie Ruedi Imbach sagt, wird der Mensch Thomas zufolge von drei Beziehungen bestimmt: der Beziehung zur Vernunft, zu Gott und zu Seinesgleichen.
Der Mensch ist nach Thomas ein allumfassendes Wesen – nicht nur ein Geschöpf Gottes im Sinne eines Tieres, das mit Vernunft ausgestattet ist, sondern auch ein «soziales und politisches Tier», das sich, um seine Individualität auszudrücken, einer wesentlichen Gabe Gottes, der Sprache, bedient. Ganz allgemein haben die Scholastiker der Sprache höchste Aufmerksamkeit geschenkt und sich einen Platz in der europäischen Sprachgeschichte erobert.
Ein weiterer Meister der Scholastik, auch er berühmt und angefochten, darf in der langen Reihe der europäischen Intellektuellen vom Mittelalter bis heute nicht fehlen: der englische Franziskaner Roger Bacon (um 1214–um 1292), der im Auftrag seines Freundes und Protektors, Papst Clemens IV. (1265–1268), eine dreifache Summe verfasste:
Opus maius, Opus minus
und
Opus tertium
. Als Philosoph und Theologe an der Universität von Oxford, aggressiv und prophetisch zugleich, zog er sich viele Feinde zu, darunter den Dominikaner Albertus Magnus, den er heftig angegriffen hatte. Besondere Bedeutungmaß er einer «Astronomie» bei, die eher eine Astrologie war, und ersann alle möglichen Techniken und geradezu prophetischen Erfindungen, die ihn als eine Art Leonardo da Vinci des 13. Jahrhunderts erscheinen lassen.
Abschließend möchte ich drei wesentliche Beiträge hervorheben, die wir der Scholastik als einer wichtigen Etappe in der europäischen Geistesgeschichte Europas verdanken.
Abaelard, der im 12. Jahrhundert der größte Wegbereiter der scholastischen Methode war, hat von Aristoteles eine fundamentale Lektion erhalten: «Der erste Schlüssel zur Weisheit ist die beharrliche Hinterfragung. Aristoteles hat gesagt, dass es nicht unnütz sei, an allen Dingen zu zweifeln. In der Tat, wer zweifelt, der wird suchen, und wer sucht, erfasst die Wahrheit.» Derselbe Abaelard schreibt in seinem
Dialog zwischeneinem Philosophen, einem Juden und einem Christen
. «Welches auch der Gegenstand der Diskussion sein mag, die Beweisführung durch Vernunft hat mehr Gewicht als sich prahlerisch auf Autoritäten zu berufen.» Abaelards Zweifel, der zum Zweifel der Scholastiker wird, hat entscheidend zu den neuen Formen des kritischen Geistes beigetragen, der auf den Griechen beruht und bis heute ein europäisches Denken definiert, als dessen Verkörperung Gramsci den kritischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts beschreibt.
Die zweite Bemerkung unterstützt Alain de Libera in der meines Erachtens sehr richtigen Einschätzung, dass die Scholastik eine große «intellektuelle Befreiung» auf den Weg gebracht hat. Damit hat sie die Idee des Wissens als Befreiung in der intellektuellen Tradition Europas verankert.
Und schließlich hat die mittelalterliche Scholastik durch ihr Bestreben, die Gedanken zu ordnen und das Wissen mit seinem Für und Wider in größter Klarheit darzulegen, jene Neigung zu Ordnung und Klarheit geschaffen oder zumindest verstärkt, die man gewöhnlich Descartes zuschreibt, der allzu oft als die treibende Kraft einer modernen Revolution des europäischen Denkens präsentiert wird. Descartes hat Vorläufer gehabt, die Meister der Scholastik, und er selbst war ein brillantes Kind dieser mittelalterlichen Schule.
Das sprechende Europa: Latein und die Volkssprachen
Der Universitätsunterricht fand auf Latein statt. Latein war die Sprache der Gelehrsamkeit geblieben, und die Tatsache, dass die christliche Liturgie sich ihrer bediente, hatte diese Vorrangstellung untermauert. Aber in den letzten Jahrhunderten des Römischen Reichs, zwischen dem 1. und dem 4. Jahrhundert, war nicht nur die lateinische Schriftsprache so
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