Die Geburt Europas im Mittelalter
Aristoteles kombiniert. Sein Buch
De proprietatibus rerum
wurde in mehrere Volkssprachen übersetzt, ins Italienische, Französische, Provenzalische, Englische, Spanische und Flämische. Für die Franzosen ließ König Karl V. es 1372 nochmals von seinem Kaplan übertragen. In der ebenfalls zwischen 1230 und 1240 entstandenen Naturenzyklopädie
Liber de natura rerum
fasst Thomas von Cantimpré das naturgeschichtliche Wissen seiner Zeit zusammen, das er als Einführung in die Theologie verstanden wissen will. Aber angesichts der Widerstände gegen sein als zu profan empfundenes Werk widmet er das Ende seines Lebens der Spiritualität, besonders in seinem Werk
Bonum universale de apibus
(Vom universellen Wohl der Bienen), dem 9. Band des
De natura rerum
, in dem er einen umfassenden Vergleich der menschlichen Gesellschaft mit einem großen Bienenstock anstellt. Die meisten dieser Enzyklopädisten waren Mitglieder der Bettelorden, auf die wir noch zu sprechen kommen werden.
Der dritte Gelehrte, der nach Bartholomaeus Anglicus und Thomas von Cantimpré höchsten Ruhm als Verfasser einer Enzyklopädie erlangte, ist der 1264 gestorbene Dominikaner Vinzenz von Beauvais. In den Dreißigerjahren des 13. Jahrhunderts wurde er von seinem Orden beauftragt, in einem «Buch der Bücher» alles notwendige Wissen für die Ausbildung derjenigen Brüder zu versammeln, die keine Universität besuchen konnten. Vinzenz, der viel in der Benediktinerabtei von Royaumont gearbeitet hatte, scharte ein Gruppe von Mönchen um sich, die – wie in einem modernen Team – für ihn Texte zusammentrugen, die er dann selbst in eine Ordnung brachte. So verfasste er ein
Speculum maius
(«Großer Spiegel») in drei Teilen:
Speculum naturale, Speculum doctrinale
und
Speculum historiale
. Ein so großer Ruf eilte ihm voraus, dass ihm nach seinem Tod ein apokryphes
Speculum morale
zugeschrieben wurde.
Von überragendem intellektuellen Wert sind die Werke des deutschen Dominikaners Albertus Magnus (um 1200–1280), des englischen Franziskaners Roger Bacon (um 1214–um 1292) und des Katalanen Raymundus Lullus (1232–1316), deren enzyklopädischen Visionen sich in verschiedenen Traktaten niedergeschlagen haben. Lullus war ein weltlicher Schriftsteller, Autor von theologischen, philosophischen, pädagogischen, juristischen, politischen und medizinischen Werken, der aber auch Gedichte und Romane schrieb, auf Mallorca Sprachunterricht in den alten und den lebenden Sprachen initiierte und viele Reisen im Mittelmeergebiet und in der Christenheit unternahm; zugleich war er ein unermüdlicher Streiter für die Bekehrung der Juden und Muslime. Wie die meisten großen Enzyklopädisten seiner Zeit vertrat er mit unerhörtem Talent zur Beweisführung und höchst originell die These, dass Glaube und Vernunft unauflöslich miteinander verbunden sind.
Die Scholastik
Das wichtigste Erbe der intellektuellen, insbesondere der universitären Aktivitäten des 13. Jahrhunderts besteht in der Gesamtheit der Methoden und Werke, die man «Scholastik» nennt. Damit ist die intellektuelle Produktion gemeint, die sich anfangs in den Schulen und im Lauf des 13. Jahrhunderts vor allem in den Universitäten vollzog. Die Scholastik ergab sich aus der Entwicklung der Dialektik, einer der Disziplinen des
trivium
, die sich als die Kunst definieren lässt, in einer Dialogsituation durch Fragen und Antworten zu argumentieren. Als Vater der Scholastik gilt Anselm von Canterbury (um 1033–1109), in dessen Augen die Dialektik die Grundmethode des philosophischen Denkens war. Das Ziel der Dialektik, die Erkenntnis durch den Glauben, hat er in einer seit dem Mittelalter berühmten Formulierung zum Ausdruck gebracht:
fides quaerens intellectum
. Dieses Vorgehen verlangt die Heranziehung der Vernunft, und Anselm ergänzte seine Lehre durch die Idee, dass der freie menschliche Wille mit der Gnade Gottes vereinbar sei. Man kann sagen, dass die Scholastik eine Eintracht zwischen Gott und dem Menschen hergestellt und gerechtfertigthat. Es war Anselm, der ihr die Grundlage der Gottesbeweise nach einer rationalen Methode verlieh.
Aus der Erprobung einer neuen Denkungsart und Unterrichtsmethode im 12. Jahrhundert wurde an den Universitäten die scholastische Methode im eigentlichen Sinne. Dabei musste zuerst ein Problem konstruiert, eine
quaestio
gestellt werden, die dann in der
disputatio
zwischen Magister und Studenten diskutiert wurde, bis schließlich der Meister die Lösung des Problems
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