Die Geburt Europas im Mittelalter
verfallen, dass die Fachleute sie als «Spätlatein» bezeichnet haben, sondern mit dem Niedergang der Schulen hatten die Massen der Laien nach und nach Umgangssprachen entwickelt, die am Ende kein Latein mehr waren. Die Historiker haben sich also die Frage gestellt, wann die Bevölkerung aufgehört hat, lateinisch zu sprechen, um sich in den so genannten Volkssprachen zu verständigen. Andererseits gab es christianisierte Völker, die Untertanen der Christenheit geworden waren, aber eigene, hauptsächlich germanische Sprachen mitgebracht hatten, die auch weiterhin gesprochen wurden, da nur die Kleriker und die Eliten in den Genuss kamen, Latein zu lernen.
Die im 9. Jahrhundert von den Laien gesprochene Sprache wird nicht mehr als Latein betrachtet, und oft wird die Geburt der Volkssprachen mit dem berühmten Text der Straßburger Eide verknüpft, die 842 von zwei Söhnen Kaiser Ludwigs des Frommen in verschiedenen Sprachen geleistet wurden, einer, die ins Französische, und einer, die ins Deutsche münden sollte. Die politische Organisation des christlichen Europa erfolgte dadurch, dass sich unterhalb der gemeinsamen Strukturen nationale Strukturen formierten. Die Kirche erkannte die Legitimität dieser Sprachen an. Die Kirchenväter hatten drei Hauptsprachen unterschieden, Hebräisch, Griechisch und Latein. Aber Augustinus zufolge gab es keine Sprache, die den anderen überlegen war – was hätte Pfingsten sonst für einen Sinn gehabt, als der Heilige Geist die Apostel mit der Gabe erfüllte, sich unterschiedslos und ohne Wertung in allen Sprachen zu verständigen? Der Rückgang des Lateinischen zwang die geistlichen und politischen Obrigkeiten des frühen Mittelalters, im sprachlichen Bereich wichtige Entscheidungen zu treffen. Aufder Frankfurter Reichssynode von 794 wurde im Sinne Augustinus’ bekräftigt, dass niemand meinen solle, Gott dürfe nur in den drei offiziellen Sprachen angebetet werden: «Es wird in allen Sprachen zu Gott gebetet, und der Mensch wird erhört, wenn er um Gerechtes bittet.» Aber der wichtigste Beschluss war der, durch den die Prediger im Jahr 813 auf der Synode von Tours aufgefordert wurden, ihre Predigten in der Umgangssprache zu halten: «Möge ein jeder Sorge tragen, seine Homilien klar in die romanische oder germanische Volkssprache zu übersetzen, damit alle leicht verstehen können, was gesagt wird.» Man hat diesen Text als «Geburtsurkunde der Nationalsprachen» bezeichnet.
Im 13. Jahrhundert hatten sich die Volkssprachen weiter entwickelt – eine Entwicklung, die bis zum Ende des Mittelalters andauerte – und waren vor allem nicht nur gesprochene, sondern Schriftsprachen geworden. Die Verschriftlichung wiederum hatte volkssprachliche Literaturen hervorgebracht, oft Meisterwerke wie die
chansons de geste
, die höfischen Romane oder die Versdichtungen der Fabliaux. Wie sollte dieses linguistische und literarische Babel zu einem gemeinschaftlichen Europa zusammenwachsen? Sogar das Latein, das die Scholastiker pflegten, war weder das klassische noch ein umgangssprachliches Latein. Das scholastische Latein war ein Kunstprodukt, das aber – mit langer Nachwirkung – für alle universitären Werke verbindlich war, in der Theologie ebenso wie in der Philosophie oder der Geistesgeschichte. Es war, wie Christine Mohrmann schreibt, «die technische Sprache der abstrakten Sprache» und ein Grundgerüst des europäischen Denkens, allerdings nur für die europäische Elite.
Die Entwicklung der Volkssprachen – der französische Ausdruck
langues vernaculaires
, abgeleitet von
verna
, einer antiken Bezeichnung für Sklaven, verweist darauf, dass diese Sprachen von gesellschaftlich und intellektuell gering geschätzten Individuen gesprochen wurden – ging langsam vonstatten. Eine wesentliche Etappe war die Ausbildung der Schriftlichkeit, besonders für juristische Texte, und die Entwicklung einer volkssprachlichen Literatur. Auch hier haben das 12. und 13. Jahrhundert die entscheidende Rolle gespielt. Der weitere Aufstieg dieser Sprachen hing schließlich eng mit der Herausbildungdes Staates zusammen, die sich – mit Schwerpunkt auf dem 13. Jahrhundert – zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert vollzog.
Nach dem Jahr Tausend bildeten die Volkssprachen je nach Ursprung mehrere Sprachfamilien. Zuerst sei die Gruppe der Sprachen genannt, die aus dem Lateinischen hervorgegangen und ihm relativ nahe geblieben sind: die
romanischen
Sprachen – hauptsächlich Französisch, die
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