Die Geburt Europas im Mittelalter
ein anderes Genre erstaunlich rasch zur Blüte, die Biographie in Form von
Heiligenleben
oder Hagiographien. Dieses Genre wurde im 13. Jahrhundert durch eine außergewöhnliche hagiographische Sammlung zur Vollendung gebracht, die
Legenda aurea
, verfasst von dem dominikanischen Erzbischof von Genua, Jacobus de Voragine.
Unterdessen traten nach den Chroniken, die der Geschichte eines Klosters oder eines Bistums gewidmet waren, im 13. Jahrhundert verstärkt königliche Chroniken auf, Werke im Dienst der Monarchien, die sich zu Staaten entwickelten. Die meistens mit Mythen umrankte Vergangenheit wurde eine Grundlage der politischen Macht. So kündigte sich ein politisches Europa des Gedächtnisses und der Geschichte an.
In England sorgten einige Werke, die von den Zeitgenossen begeistert aufgenommen wurden – wie das des Wilhelm von Malmesbury (um 1095–1143) oder die Geschichte der Könige von Britannien,
Historia regum Britanniae
, des Geoffrey von Monmouth (gest. 1155) –, für die Verbreitung eines Geschichtsbildes, das eine Kontinuität von den keltischen über die angelsächsischen bis zu den normannischen Königen unterstellte. Vor allem aber verbreiteten zahlreiche Werke um die Gestalt des Brutus, der Geoffrey von Monmouth zufolge der erste König Britanniens gewesen war, in Anlehnung an den Artusstoff die Idee eines trojanischen Ursprungs des englischen Königtums. Eine ganze Reihe von Brutus-Chroniken stieß im 13. Jahrhundert auf lebhaftes Interesse.
Parallel dazu entwickelte sich in Frankreich seit dem frühenMittelalter ein Mythos von der Trojanerabstammung der Franken. Die Mönche der königlichen Abtei Saint-Denis verstanden sich besonders gut darauf, diesen Mythos zu Gunsten der Kapetingerkönige zu nutzen. Im Jahr 1274 überreichte der Mönch Primat von Saint-Denis König Philipp III. eine zusammenfassende Chronik, die dessen Vater, Ludwig der Heilige, bei ihm in Auftrag gegeben hatte und die den Anfang der «Großen Chroniken von Frankreich» darstellt. Man nannte sie den
roman aux rois
, wobei das Wort
roman
auf die Sprache anspielte, in der sie geschrieben war, und nicht auf die Literaturgattung. Diese sagenhaften Geschichten verdeutlichen den Wunsch der Europäer, ihren Ursprung auf die griechische Antike zurückzuführen. Schon Vergil hatte die Römer in der
Äneis
von den trojanischen Helden abstammen lassen, die als Überlebende des Krieges nach Europa geflüchtet waren. Die Italiener griffen diese Tradition auf. Im Mittelalter wurde der Mythos der trojanischen Ursprünge auch durch eine Überlieferung ausgebaut, der zufolge die nach Mitteleuropa geflohenen Trojaner mehrere Jahrhunderte lang die alte Römerstadt
Aquincum
(Budapest) bewohnt hatten, ehe sie nach West- und Südeuropa vorgedrungen waren – eine Episode, aus der das ungarische Königtum Nutzen zu ziehen versuchte.
4. Der Erfolg der Bettelmönche
Das 13. Jahrhundert, die Zeit der Städte, der Kaufleute, der Universitäten und der Volkssprachen, stand auch unter dem Einfluss einer neuen Art von Mönchen, die den Bettelorden angehörten und deren Wirken in Europa sehr nachhaltige Spuren hinterlassen hat. Die wichtigsten dieser neuen Orden waren der Prediger- oder Dominikanerorden und der Minoriten- oder Franziskanerorden. Sie bestanden nicht mehr aus Mönchen, die sich in die kollektive Einsamkeit isolierter Klöster zurückzogen, sondern aus Regularen, die gemeinschaftlich inmitten der Bevölkerung der Städte lebten. Durch Predigt und liturgische Praxis wollten sie eine neue Gesellschaft schaffen, ein neues Christentum verwirklichen, das dem Laienstand mehr Interesse entgegenbrachte. Sie bemühten sich hauptsächlich und sehr erfolgreichdarum, sowohl Kleriker als auch Laien den veränderten Verhältnissen anzupassen, die der Aufschwung der europäischen Christenheit mit sich brachte.
Die großen Probleme der Kirche – die unvollendete Gregorianische Reform, die rasche Ausbreitung der Häresien, die Unfähigkeit zur Anpassung an eine Gesellschaft, in der sich die Geldzirkulation beschleunigte und der Reichtum ein Wert wurde, während die auf ländliche Verhältnisse eingestellte monastische Kultur nicht mehr in der Lage war, den Erwartungen der Christen zu genügen –, all das bedurfte einer Lösung. Die Antwort kam von einigen geistlichen oder weltlichen Persönlichkeiten, den Begründern eines neuen Typs nicht-klösterlicher Orden, die vom Papsttum mehr oder weniger widerstrebend zugelassen wurden. Der Name
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