Die Geburt Europas im Mittelalter
jenem ausgewählte Elemente übernimmt. In einem Land, dessen politische Vereinigung erst im 19. Jahrhundert erfolgen sollte und dessen kulturelle Einigung noch längst nicht abgeschlossen ist, kann man ihn wohl als den wahren Vater des Italienischen betrachten.
Die im Mittelalter lebenden Menschen hatten offenbar selbst begriffen, dass die Sprachvielfalt ein Kommunikationshindernis war, zumal in einem Europa, in dem das Lateinische – vor allem im ökonomischen Bereich – keine vereinheitlichende Rolle mehr spielen konnte. Sie bemühten sich daher um eine Vereinfachung des Sprachengewirrs, insbesondere beim Aufbau der Staaten, die Nationen werden sollten. Die Sprachen stellen auch heute, beim Aufbau Europas, eines der größten und schwierigsten Probleme dar. Aber das mittelalterliche Beispiel zeigt, dass eine begrenzte Sprachvielfalt in einem gemeinsamen Europa durchaus fruchtbar sein kann, und dass diese Vielfalt bei weitem mehr verspricht als die Vorherrschaft einer einzigen Sprache, die nicht in einer langen kulturellen und politischen Tradition verankert ist. Das wäre etwa der Fall, wenn Englisch die
Europasprache
würde.
Wenn die Zukunft Europas im 13. Jahrhundert schärfere Konturen gewonnen hat, ist dies hauptsächlich der Entwicklung der Literaturen zu verdanken. Europa ist ein Sammelbecken literarischer Gattungen und Werke, und es waren literarische Meisterwerke, die den Nationalsprachen zum dauerhaften Erfolg verholfen haben.
Große Literaturen und Meisterwerke
Das Französische hat seine Karriere am Ende des 11. Jahrhunderts mit den
chansons de geste
und dem
Rolandslied
begonnen. Durch die höfischen Romane und deren Meister, Chrétiende Troyes, hat sich sein Einfluss noch vermehrt, vor allem durch Übersetzungen oder Nachahmungen im germanischen Sprachraum. Die Artus-Literatur um den teilweise legendären angelsächsischen Helden inspirierte eine Gattung, die bis heute glänzende Erfolge in Europa feiert: den Roman mit seinen beiden Hauptzweigen, dem historischen Roman und dem Liebesroman, der dem Individuum oder dem Paar gewidmet ist und oft vom Gedanken des Todes beherrscht wird. Das Europa von Eros und Thanatos war geboren.
Das Kastilische setzte sich Anfang des 13. Jahrhunderts ebenfalls mit einem Meisterwerk der Heldendichtung durch, dem
Poema de mio Cid
, einer Huldigung an den edlen christlichen Abenteurer, der 1094 im Umkreis von Valencia den ersten christlichen Staat auf islamischem Boden schuf. Als Diener christlicher und muslimischer Monarchen war er ein «Held der Grenze» und erhielt den Beinamen
El Cid
, von arabisch
sayid
, der Herr.
Die Verbreitung der Prosa
Die Hinwendung der Literatur zur Prosa im 13. Jahrhundert war ein Ereignis, das die literarische Welt Europas immer noch prägt. Die
chansons de geste
waren in Versen geschrieben, und die gereimten
Eddalieder
stellten das erste literarische Denkmal Skandinaviens dar – eine Sammlung von rund dreißig mythologischen und heroischen Gedichten, die zwischen dem 9. und dem 12. Jahrhundert in Skandinavien verfasst wurden und uns in einer isländischen Handschrift aus dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts erhalten sind.
Im 13. Jahrhundert wurde die ursprüngliche Dichtung durch Prosa als Hauptform des literarischen Ausdrucks ersetzt. Echtes Schreiben sollte an die Stelle der künstlichen Reime treten. So wurde die höfische Dichtung in Prosa gebracht, und der große isländische Schriftsteller Snorri Sturluson (1179–1241) tat das Gleiche mit der
Edda
.
Im 13. Jahrhundert entwickelte sich auch eine historische Literatur. Aber Geschichte war damals weder ein Lehrstoff (erst im 19. Jahrhundert wurde sie in den Lehrplan der Schulen und Universitäten aufgenommen) noch eine spezifische Literaturgattung.Doch die Autorität und Anziehungskraft der Vergangenheit, ihr wachsender ideologischer Wert – bis die Chroniken des 14. und 15. Jahrhunderts zu unterhaltsamen Berichten übergingen – verschafften der Geschichte oder zumindest der Erinnerung einen bedeutenden Platz in der Literatur.
Zu den Literaturgattungen, die wir heute als historische betrachten, gehörten im mittelalterlichen Europa die universellen Chroniken. Das erste Werk dieser Art, aus dem 4. Jahrhundert, stammt von Eusebius von Caesarea. Er war Zeuge einer Globalisierung des Wissens in einem Europa, das den amerikanischen Kontinent nicht kannte und von den größten Teilen Afrikas und Asiens noch kaum etwas wusste. Neben den universellen Chroniken kam
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