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Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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seinen Aufbruch zur Erwartung des Jüngsten Gerichts so lange wie möglich hinauszuzögern. Agostino Paravicini Bagliani hat gezeigt, wie leidenschaftlich sich der Franziskaner Roger Bacon und die Römische Kurie im 13. Jahrhundert für die Hoffnung interessierten, die Dauer des Menschenlebens auf Erden zu verlängern. Auf die Kenntnis der Welt zielten auch die Bemühungen um eine präzisere Kartographie anstelle der vorwiegend ideologischen Karten aus dem frühen Mittelalter, die sich um wissenschaftliche Genauigkeit wenig gekümmert hatten. Während der Bischof Otto von Freising, ein Onkel Friedrich Barbarossas, noch in der Mitte des 12. Jahrhunderts geglaubt hatte, dass die Christianisierung der Welt vollendet, dass der Gottesstaat und damit das Ende der Geschichte gekommen sei, fand Europa unter dem Druck der monarchischen Staatsbildung in England und in Frankreich, der spanischen
Reconquista
und der großen römischen Konzilien, aber auch unter dem Einfluss der joachimitischen Ideen den Sinn der Geschichte wieder.
    Schließlich bildeten sich im 12. und 13. Jahrhundert zwei menschliche Ideale aus, die im Wesentlichen – obschon auch sie den Heilsweg vorbereiten sollten – auf irdische Erfolge ausgerichtet waren. Das eine, die in adligen und ritterlichen Kreisen verbreitete, von den Sitten des Hofes inspirierte
Courtoisie
, wurde im 13. Jahrhundert zum Synonym für Höflichkeit, ja sogar für Zivilisation im modernen Sinne. Das andere, die
Prud

homie
, war ein Ideal der Weisheit, der Mäßigung, derVerbindung von Mut und Bescheidenheit, Tapferkeit und Vernunft, und auch dies war seinem Wesen nach ein weltliches Ideal. Die Verkörperung dieser Ideale findet sich in den beiden Hauptpersonen eines der meistgelesenen Bücher des 12. und 13. Jahrhunderts, des
Rolandslieds.
Roland ist tapfer, aber Oliver ist weise. Und der französische König Ludwig IX. ist ebenso sehr Prud’homme wie Heiliger. Hinfort erlangt der Mensch das Seelenheil auf Erden wie im Himmel.
    Ein letztes Phänomen: Ohne den kollektiven Idealen abzuschwören und die Zugehörigkeit zum Familiengeschlecht, den Bruderschaften oder Korporationen zu leugnen, bemühte sich im 13. Jahrhundert zumindest eine Minderheit, dem Individuum einen Platz einzuräumen. Am Ende des Erdenweges war das Fegefeuer ein individuelles Jenseits vor dem Übergang zum kollektiven Jenseits des Jüngsten Gerichts. Michel Zink hat wunderbar gezeigt, wie das «Ich» in der Literatur auftaucht und die literarische Subjektivität im Europa des 13. Jahrhunderts zum Durchbruch kommt.

VI. Herbst des Mittelalters oder Frühling neuer Zeiten?
    Ich übernehme für dieses Kapitel den Titel eines anregenden Buchs von Philippe Wolff, das 1986 erschienen ist und seinerseits auf das berühmte Werk des niederländischen Historikers Johan Huizinga,
Herbst des Mittelalters
(1975), anspielt. Die Periode vom 14. bis 15. Jahrhundert, die traditionell als das Ende des Mittelalters gilt, wird im Allgemeinen auch als eine Krisenzeit der einigermaßen stabilen Verhältnisse und der relativen Prosperität beschrieben, die sich im 13. Jahrhundert in Europa ausgebreitet hatten. Der Historiker Guy Bois hat diese Vorstellung neuerdings in Frage gestellt und eine positivere Analyse dessen geliefert, was er nur für eine vorübergehende Krise des Feudalwesens hält. Da er sich bei den Belegen allerdings hauptsächlich auf die Normandie beschränkt, verringert sich die Tragweite seiner Hypothese. Im Übrigen glaube ich wie die meisten Mediävisten, dass die schweren Nöte des 14. und 15. Jahrhunderts eine Struktur- und Wachstumskrise der gesamten europäischen Gesellschaft im Vorfeld einer neuen, nämlich der großen Renaissance, und zugleich Folgen des verheerenden Ausbruchs unverhoffter Katastrophen waren. Unter dem oft vorherrschenden Eindruck apokalyptischer Visionen – auch sie vom Himmel auf die Erde herabgestiegen – haben die Menschen des 14. Jahrhunderts das Unheil, dem sie ausgesetzt waren, häufig in dem Bild von drei apokalyptischen Reitern zusammengefasst: Hunger, Krieg und Pest. Jedes dieser Phänomene war aus den vorhergehenden Phasen des Mittelalters schon bekannt, aber ihre Intensität und manche neuen Aspekte ließen sie als beispiellos erscheinen.
Hunger und Krieg
    Der Hunger war eine unerhörte Gefahr. Einige Klimahistoriker, vor allem Emmanuel Le Roy Ladurie und Pierre Alexandre, haben besonders in Nordeuropa eine Klimaverschlechterungnachgewiesen, die auf eine lange

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