Die Geburt Europas im Mittelalter
wurde erst ins Lateinische und gegen Ende des 14. Jahrhunderts für den Herzog vonBurgund, Philipp den Kühnen, ins Französische übersetzt. Der Benediktiner Honoré Bonet nahm den
Tractatus de bello
des italienischen Juristen Johannes von Lignano als Grundlage für sein Werk
L’Arbre des batailles
, das er dem jungen König von Frankreich, Karl VI., widmete. Im Jahr 1410 schrieb die am Hof Karls VI. lebende Italienerin Christine de Pisan das
Livre des faits d’armes et de chevalerie
. Und 1449 befasste sich der Italiener Mariano Daniello di Jacopo, genannt Taccola, in seinem Traktat
De machinis
mit den Techniken der Kriegsmaschinen. Für das Heer- und Kriegswesen wurden nach und nach in ganz Europa immer mehr Ordonnanzen erlassen: so die von Florenz im Jahr 1369, die große Ordonnanz Karls V. von Frankreich im Jahr 1374, die Statuten und Ordonnanzen Richards II. von England im Jahr 1385, die Heinrichs V. von England 1419, die militärischen Reglements Karls des Kühnen, insbesondere im Jahr 1473, und die gesamten Reglements zur Kriegsordnung, die von den Schweizer Kantonen erlassen wurden.
Die Archäologie stellt uns reichhaltiges Material zur Verfügung, das die schriftlichen Quellen ergänzt. Philippe Contamine erinnert an die Funde bei Aljubarrota in Portugal, wo man linear oder versetzt angeordnete Erdlöcher entdeckt hat, die offenbar 1385 von den englischen Archers aus Gent gegraben worden sind, um Pfosten zu setzen und die Angriffe der kastilischen Reiterei abzufangen. Die Ausgrabungen der Massengräber, in denen 1361 die Toten der Schlacht von Visby auf der Insel Gotland bestattet wurden, haben eine wissenschaftliche Untersuchung der gesamten Verteidigungsausrüstung erlaubt. Auch die teils neu errichteten, teils umgebauten Befestigungsanlagen, mit denen im ausgehenden Mittelalter Städte, Schlösser, Kirchen und Häuser geschützt wurden, konnten dank der Archäologie erschlossen werden: so die Schutzwälle oder Ringmauern von Avignon, York, Rothenburg und Nördlingen oder die Befestigungen von Schlössern und Burgen wie Vincennes, Fougères, Salses, Karlstein oder Tarascon. Zahlreiche europäische Museen bieten Einblick in das kriegsgerüstete Europa des 14. und 15. Jahrhunderts: das Tower of London Armoury Museum und die Wallace Collection in London, das Museum der Porte de Hal in Brüssel, das Pariser Musée del’Armée, die Engelsburg in Rom, das Museum Stibbert in Florenz, die Turiner Armeria Reale, die Real Armeria in Madrid oder auch die Rüstungs- und Waffensammlung von Schloss Ambras in Tirol.
Philippe Contamine hat auch in Erinnerung gerufen, wie sehr ganz Europa in den beiden letzten Jahrhunderten des Mittelalters von Kriegen und Feldzügen, regulären Truppen und Söldnerkompanien überzogen war: die
Grandes compagnies
in Frankreich und in Spanien, Abenteurerkompanien in Italien, die
Écorcheurs,
Schinder oder Armagnaken in Frankreich oder im Westen des deutschsprachigen Bereichs, der Hundertjährige Krieg, der Erbfolgekrieg in der Bretagne, Kriege um die Entstehung und den Zerfall des Herzogtums Burgund, bürgerkriegsähnliche Wirren in Kastilien, Feldzüge der Kirche zur Rekuperation des Kirchenstaates, Seekriege zwischen Genua und Venedig, zwischen der deutschen Hanse, Dänemark und England, Kriege gegen die tschechischen Hussiten, Konflikte zwischen dem Deutschen Orden und seinen Nachbarn, Rosenkriege in England und das Ende des Königreichs Granada in Spanien, während auf dem Balkan die Türken auf dem Vormarsch waren.
Die Ikonographie und die Archäologie zeigen ferner, dass in Europa endgültig das Zeitalter des Pferdes angebrochen war, das mehr denn je als Streitross und weniger als Jagdpferd in Erscheinung tritt. In diesen Jahrhunderten veränderte sich auch die Infanterie, die zwischen der Mitte des 14. und der Mitte des 15. Jahrhunderts quantitativ und qualitativ an Bedeutung verlor, aber danach erstarkte und – vor allem dank der deutschen Söldner, der Landsknechte, und der Schweizer Fußtruppen – viel an Prestige gewann. Noch erstaunlicher war das Auftauchen der Artillerie. Das Schießpulver und die Geschütze selbst gelangten innerhalb von rund zwanzig Jahren, zwischen 1325 und 1345, von China durch die muslimische Welt nach Italien und von dort nach ganz Europa. «Dieses Kriegsgerät oder Teufelszeug, das man gemeinhin Kanone nennt», wie John Mirfield noch um 1390 sagte, revolutionierte die Kriegskunst nur langsam und hauptsächlich in zwei Bereichen, durch
Weitere Kostenlose Bücher