Die Gefährtin des Medicus
Tag unter ihren Händen zerrieselt war wie erdige Klumpen. Sie verschwendete ihre Zeit an Aurélies Grab, und nicht immer mochte sie sich vortäuschen, dass es Kummer war, der sie dazu trieb. Manchmal flackerte die Ahnung auf, dass der Trotz sie viel stärker an das tote Kind band als die Erinnerung an sein bleiches Gesichtchen, dass es auch nicht das Kind war, von dem sie nicht lassen konnte, sondern sein ferner Vater, dass sie auf jenen wiederum gerne hätte verzichten können – zumindest an jedem anderen Ort der Welt, nur hier in Saint – Marthe eben nicht. Hier schmerzte die Erinnerung an ihn, weil es die Erinnerung an ihre Freiheit war, die Erinnerung an Tage, da sie tat, was sie wollte, und wollte, was sie tat.
Als sie in jene Kate zurückkehrten, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte und wo sie nun, nach Caterinas Tod, mit ihrem Mann, ihrem Kind und ihrem Vater lebte, fühlte sie sich so schwer, als habe sie nicht nur an einem Grab gesessen, sondern darin gelegen, erstickt und erdrückt von der Erde. Fremd klangen in diesem Augenblick die Geräusche aus dem Haus, kündeten nicht von ihrer Verzagtheit, sondern klangen licht und leicht wie das Zwitschern eines Vögelchens.
»Sie hat in einer Höhle gelebt. Ja, die letzten Jahre ihres Lebens hat sie sie gar nicht mehr verlassen«, hörte sie Ray sagen.
Auf seinen Knien hockte Raymonda und beobachtete ihren Großvater mit ernster Miene. Er hatte es schwer, sie zum Lachen zu bringen, aber fesseln konnte er sie mit seinen Geschichten ohne Mühe. Von der heiligen Maria Magdalena erzählte er eben, wenngleich diese Geschichte wenig ähnlichkeiten mit jener von Jean Gobi dem älteren hatte, Prior des Dominikanerkonvents inSaint-Maximin, der in einem Buch die Wunder der Heiligen zusammengefasst hatte. Doch ihre Frömmigkeit und ihre Verbundenheit mit dem auferstandenen Christus, den sie als Erste gesehen, jedoch nicht hatte berühren dürfen, interessierte weder Ray noch seine Enkeltochter.
Er schmückte vielmehr den Zustand ihres Leibes zu jener Zeit aus, da sie sich als Eremitin weinend und betend und seufzend den Lebenserinnerungen hingegeben hatte.
»Sie hatte Haare, die bis zum Boden reichten, und wenn sie einen falschen Schritt machte, dann stieg sie darauf.«
Ein Geräusch entfuhr Raymondas Mund, das man für ein Kichern hätte halten können. Alaïs konnte nicht sehen, ob sich ihre Lippen dabei verzogen. Das Gesichtchen war von einer Fülle schwarzen, glatten Haars verborgen, wie es einst auch über Caterinas Rücken geflossen war.
»Und sie hatte Warzen, riesige große Warzen an ihren Händen!«, schmückte Ray sämtliche Einzelheiten aus. »Und ihre Fingernägel waren so lang, dass sie sich um die Hand wanden.«
Wieder ertönte jenes Glucksen.
»Hör auf!«, fuhr Alaïs ihn an. »Das ist lästerliche Rede! So darf man nicht über eine Heilige sprechen!«
Sie trat auf die beiden zu und zog Raymonda unwirsch vom Schoß des Großvaters. Das Kind versteifte sich unter ihrem Griff, aber wehrte sich nicht. Es hatte wohl längst gelernt, dass es meist nach kurzer Zeit wieder von den sonderbaren Anwandlungen der Mutter befreit war, jenem Gemisch aus Widerwillen und der unerfüllten Sehnsucht, die zweitgeborene Tochter könnte mit Unschuld und Liebreiz gutmachen, wo das eigene Leben versagt hatte. Aber Raymonda wirkte weder liebreizend noch unschuldig. In ihren dunklen Augen witterte Alaïs nichts von jener Leichtgläubigkeit und Gutmütigkeit, wie sie anderen Kindern oft ins Gesicht geschrieben stand, nur Vorsicht, als habe sie mit der Muttermilch eingesogen, dass jene, die ihr ebendiese Milch schenkte, sie ihr nicht von Herzen gönnte.
Manchmal quälte es sie, dass das Kind ihr nichts bedeutete.Und manchmal quälte sie das Kind, um nicht darüber nachdenken zu müssen. Nie willentlich geplant war das, nie, um Ray – monda ernsthaft zu schaden. Nur manchmal, da kniff sie ihr in den Arm oder zog sie an den Händen – und hörte nicht auf, wenn die Kleine quengelte, nein, tat es noch einmal, tat es so oft, bis sie sich ertappt fühlte, von Emy, der eifrig über seine Tochter wachte, oder von ihrem Vater Ray.
Letzterer zeigte seine Trauer über Caterina nie, scherzte vielmehr oft, lachte viel, und manchmal vermochte er Alaïs damit aufzuheitern. Doch in letzter Zeit – es gab ihr einen Stich, als sie das feststellte – bemühte er sich häufiger darum, Raymonda zum Lachen zu bringen und sie mit aufregenden Geschichten zu unterhalten als seine Tochter.
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