Die Gefährtin des Medicus
gegeben, aber er hatte damals noch nicht diese große Bedeutung für sie gehabt.
Die Gefühle, die sie hier, fünf Jahre nach ihrer Heimkehr aus Avignon, erwarteten, waren schmerzhaft und düster. Zumindest aber gehörten sie zur Gegenwart und waren frei vom schalen Geschmack dessen, was davor lag.
Sie beugte sich tief hinunter, sank dann mit ihren Knien auf die warme Erde, wühlte darin und spürte, wie sich kleine Brocken unter ihre Fingernägel gruben. Sie hatte früher nicht gewusst, dass Erde so stark riechen konnte, so widersprüchlich auch, gleichzeitig fruchtig und modrig nämlich, feucht und trocken, süß und verdorben. Sie hatte früher auch nicht gewusst, dass sie diesen Ort wieder und wieder aufsuchen würde.
Einst war sie mitten in der Nacht hier gestanden, als Aurel und Emy den Körper des alten Ricards ausgegraben hatten. Nun kamsie am Morgen, um bis zum Mittag zu bleiben, und sie betrauerte Aurélie, die Tochter, die sie geboren und die der Vater, der nunmehr seit Jahren in der Ferne weilte, nie gesehen hatte.
Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihr bei der Geburt ein lauteres Geräusch über die Lippen gekommen war als ein Stöhnen. Sie schrie nicht, auch nicht im heftigsten Schmerz. Vielleicht war dieser Schmerz auch gar nicht heftig im Vergleich zu dem, den andere Mütter auszustehen hatten, wenn sie große, runde Kinder auf die Welt brachten, die beim ersten Atemzug kräftig plärrten. Die kleine Aurélie wimmerte nur und verhielt sich solcherart genauso leise wie die Mutter. Sie war nicht größer als jene Spanne zwischen Alaïs’ Ellbogen und ihrer Hand, leicht wie eine Feder und ihre weiße Haut verschrumpelt wie ein Apfel. Alaïs hatte noch nie ein Kind wie dieses gesehen, so farblos, so regungslos. Sie wagte kaum, es zu halten – aber sie stellte sich vor, was Aurel bei dessen Anblick getan hätte. Hätte er Aurélie gescheut oder hätte er begierig auf ihren Tod gewartet, um diesen bleichen, kleinen Körper aufzuschneiden?
Der Tod ließ nicht lange auf sich warten. Indessen Alaïs sich nicht traute, das Kind zu berühren, weil es doch zerbrechen könnte wie das kostbare Glas am Avignoneser Hof, trugen Emy und ihre Mutter es mit Hingabe hin und her, als wollten sie der Kleinen durch den Rhythmus ihrer Schritte Lust aufs Leben machten. Caterina war es auch, die Aurélie an Alaïs’ Brust legte – doch es kam keine Milch. Vielleicht wäre sie da gewesen – dessen war sich Alaïs sicher, noch über Monate schmerzten ihr die Brüste, waren groß und hart wie Stein –, doch Aurélie hatte keine Kraft zum Saugen. Sie schnappte nach der Brustwarze wie nach Luft, aber dann ließ ihr winziges Mäulchen sie sofort wieder los.
»Sie ist viel zu früh geboren«, hörte Alaïs später die Mutter zu ihrem Vater sagen. »Sie ist zu kraftlos für diese Welt.«
Trotz aller Scheu hielt Alaïs die Tochter, als jene einschlief und nicht mehr aufwachte, hielt sie und betrachtete sie verwirrt. Der Moment, da der Tod endgültig seine Flügel über sie gebreitet hatte, war ihr entgangen. Aurélie schien kaum durch ihn verändert, war ebenso bleich, ebenso reglos wie zuvor. Irgendwann wurde sie kalt, und Emy, der Tränen in den Augen hatte, obwohl er nicht der Vater war, nahm sie ihr schließlich ab und hüllte sie in ein warmes Tuch.
Warum versucht er, sie zu wärmen?, dachte Alaïs. Sie kann doch kalt bleiben, sie wird doch ohnehin in kalter Erde begraben.
Aurel würde nicht kommen, sie auszugraben – und sie würde ihm nicht helfen, es zu tun, wenn er es versuchte. In den nächsten Wochen, als sie meist im Bett lag, zwischendurch vom Fieber befallen, das sie fantasieren ließ, stellte sie sich oft vor, wie er versuchte, ihr Kind zu rauben so wie alle anderen Toten von Saint – Marthe. Und sie stellte sich vor, wie sie Aurel jenes Messer, das er zum Sezieren bereitgelegt hatte, in den Leib rammte. Auf dass er ihn spürte – jenen Schmerz, der seit Aurélies Tod in ihr wucherte, jedoch niemals laut wurde. Schließlich hatte sie auch bei ihrer Geburt nicht geschrien.
»Alaïs …«
Die Stimme war verstörend leise, spiegelte geradezu lächerlich die eigene Tonlosigkeit wider. Sie mochte Trauer und Bitterkeit ertragen – immerhin noch starke Gefühle –, diese dumpfe Hilflosigkeit jedoch nicht.
Sie blickte kaum hoch. Sie wusste ja, wer ihr nachgekommen war.
»Alaïs …«
Sie hob die Hand, noch ehe Emy sie an den Schultern zu fassen bekam. Seine Berührungen waren nie aufdringlich, immer
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