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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Gedanken, »seit wann mag dem vornehmen Mäulchen nichts mehr schmecken?«
    »Spottest du über mich?«, fuhr Alaïs ihn an. »Oder willst du mich schlecht machen wie all die anderen Dorfweiber?«
    Allen voran dachte sie an die alte Régine, die ihrem Bruder Josse immer noch mehr Aufmerksamkeit zollte als den eigenen Kindern, aber doch stets lobte, welch eine vorzügliche Tochter ihre Dulceta war. Innerhalb von drei Jahren hatte diese ihrem Mann Pierre drei Söhne geschenkt. Dass jene Söhne strohdumm waren und ihr Geheule lästiger war als das von Raymonda, zählte nicht. Grobschlächtig, einfältig, aber angesehen waren auch die Kinder, die Josse gezeugt hatte – mit der schielenden Aiglentina aus dem Nachbardorf, die zu seinen glupschigen Augen passte.
    Sie sah, dass ihr Vater zu einer neuerlichen Rede ansetzen wollte – neckisch wie früher und zugleich bissiger seit Caterinas Tod. Doch Emy kam ihm zuvor.
    »Vielleicht hat sie recht«, sagte er rasch. Es deuchte sie eigenartig, dass er über sie, aber nicht mit ihr redete. Doch ihre Gereiztheit verflog augenblicklich, als er fortfuhr.
    »Wir sollten wieder einmal Fleisch essen. Der Fischfang war doch reichlich in diesem Frühjahr, wir können es uns leisten.«
    »Willst du Dulceta eines ihrer Zicklein abkaufen?«, fragte Ray.
    »Ich dachte eher …«, Emy zögerte, ehe er fortfuhr. »Ich dachte eher, dass wir’s uns auf einem Viehmarkt holen. In Arles oder in Marseille.«
    Alaïs riss die Augen auf. Allein die Namen dieser Städte zu hören, tat weh, verhießen sie doch, dass irgendwo Menschen in engen, überfüllten Gassen weiterhin lebten und drängten, schrien und sangen, soffen und tanzten, indessen sie in dem kleinen Dorf verrottete.
    Ray hob die Augenbraue. Alaïs konnte seinen Einwand förmlich hören. Dass ein so weiter Weg – unmöglich sei die Strecke an einem Tag zurückzulegen – ein zu großer Aufwand war. Dass er sich nicht lohnte, da sich Ziegen und Schafe auch andernorts kaufen ließen. Doch stattdessen nickte er, und in seinen Augen glomm jene Lust nach Abwechslung auf, die auch Alaïs ins Gesicht geschrieben stand. Fast gleichzeitig riefen Vater und Tochter: »Das wollen wir tun!«
    Als Emy einen Bissen vom Eintopf nahm, lächelte er ein wenig, erleichtert, die launische Frau an seiner Seite zufrieden gestellt zu haben, gequält, weil das so schwer war und so selten gelang.
    »Hab Dank«, murmelte Alaïs, und es war nicht gewiss, ob sie die Mahlzeit meinte oder seinen Vorschlag. In jedem Fall aß sie zum ersten Mal seit langem mit gutem Appetit.

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XXV. Kapitel
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    Der Fußmarsch nach Marseille war heiß und mühselig. Ray – monda quengelte, Emy schwitzte stumm, Ray machte sich über das ächzen seiner Knochen lustig. Und Alaïs war so glücklich, dass sie hätte laut schreien mögen – schlichtweg, um zu erproben, ob ihre Stimme so frei war, wie sie sich fühlte. Es war schon hell gewesen, als sie mit dem Boot die erste Wegstrecke zurückgelegt hatten. Doch als sie an einem Fleckchen Erde an Land gingen, das Alaïs noch nicht kannte und das jene herausfordernde Fremde verhieß, die sie im engen Saint – Marthe vermisst hatte, hatte sie das Gefühl, die gleißenden Sonnenstrahlen tanzten um sie und sie mit ihnen. Der Blick aufs Meer, in Saint – Marthe so eintönig geworden, verhieß hier schimmernde Türkistöne und am Horizont die weiß funkelnde Weite. Der schroffe Boden, auf dem mit nackten Sohlen zu gehen wehtat, war keine Unbill für Alaïs, sondern ein Abenteuer. Das stachelige Gebüsch, das sich dann und wann darum rankte und, verfing man sich darin, blutige Kratzer an den Waden riss, wuchs in Saint – Marthe nicht und ward darob für Alaïs kein lästiges Beiwerk, sondern eine willkommene Prüfung, welche die Menschen teilte: in solche, die förmlich am Heimatboden klebten und weinerlich gestimmt waren, rutschte ihnen dieser unter den Füßen weg. Und in solche, die für die Wanderschaft geboren waren und folglich geübt, jedem Hindernis auszuweichen, jeder Gefahr zu trotzen, jede unvorhersehbare Situation zu meistern.
    Je länger sie gingen, desto frischer fühlte sie sich. Mochte der Schweiß fließen, mochte der Atem schnaufend geraten – jenebleierne, dunkle Schwere, die sonst auf ihr lastete, fiel ab. Sie fühlte sich, wie sie sich in den letzten Jahren nur in ihrem wiederkehrenden Traum gefühlt hatte: Im tiefen, kalten Wasser sah sie sich darin schwimmen, und sie trug nicht das geringste Fetzchen Stoff an ihrem

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