Die Gefährtin des Medicus
eingedrungen, schrie sie, viel lauter als sie jemals geschrien hatte. Sie wusste nicht, ob vor Kummer oder vor Lust. Vielleicht war ihr Körper gar nicht fähig, Letztere zu empfinden – oder vielleicht war sie nicht fähig, die Regungen ihres Körpers wahrzunehmen. Es war nicht wichtig. Wichtig war nur, dass Emy da war und da blieb – obwohl er von ihrer Schuld wusste, obwohl er ahnte, dass sie nicht nur um Aurélie, sondern auch um Aurel weinte und dass sie ihn gleichzeitig verfluchte. Er küsste ihre Tränen fort, er küsste ihre Lippen – nicht gierig, wie sie Küsse kannte, sondern zärtlich. Und sie erschauderte, bebte, schluchzte und war dankbar für die Ahnung, die er ihr schenkte: dass es noch mehr auf dieser Welt gab als nur sie und den Tod.
Wohlig fühlte es sich an, unter Emy zu liegen, weich, beruhigend – und am Ende erstickend. Irgendwann verstummten alle Laute in ihrem Mund. Nur mehr sein Atem war zu hören, wie er schneller wurde und wie er schließlich aufstöhnte – so leise freilich, dass sie sich nicht sicher war, ob alles nur ein Traum gewesen war.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass es zwischen ihren Schenkeln nicht weh getan hatte, nicht so weh wie damals mit Aurel in der Grotte, nicht so weh wie in der Stunde, da sie Aurélie geboren hatte. Was hielt den Schmerz zurück – Emys Zärtlichkeit, nach anfänglicher Scheu erstaunlich entschlossen, obwohl sie ihn doch zum ersten Mal bei einem Weib zu liegen wähnte, oder ihre eigene Taubheit?
Er ließ sie nicht los, als er einschlief, und sie rückte nicht von ihm ab, bis sie in den Schlaf sank. Eng umschlungen wachten sie auf. Ehe sie die Augen vor seinem Blick senkte, das wusste sie später noch, fuhr sie ihm durch das wirr abstehende Haar. Auch erinnerte sie sich daran, dass er daraufhin lachte – ein heller, warmer, weicher Ton. Der bereitete ihr, anders als sein Körper, anders als seine Umarmung, nun doch Schmerzen. Ihre Tochter war tot, ihre Mutter war tot – und er lachte?
Sie rückte von ihm ab und verbot ihm, ihr jemals wieder so nahe zu kommen, nicht sicher, ob es galt, ihm den eigenen Körper zu versagen oder sich selbst seinen Trost.
Neun Monate später gebar sie eine zweite Tochter. Sie wurde Raymonda genannt, nach ihrem Großvater, hatte kräftiges schwarzes Haar und eine ebenso kräftige Stimme. Sie schrie unentwegt, und als Alaïs sie an ihre Brust legte, trank sie sofort mit lautem Schmatzen.
Eine Weile war Emy neben Aurélies Grab stehengeblieben, hatte sie zunächst kein zweites Mal gedrängt, mit ihm zu kommen. Doch nun, da sie ihre Hände immer tiefer in der Erde wühlte, sich nicht lösen konnte von der Erinnerung an ein Kind, das zunächst ein fremder Eindringling gewesen war, das sie dann mit Hilflosigkeit und auch ein wenig Befremden erfüllt hatte, als es schwächlich und zum Sterben verdammt in ihren Armen lag und das ihr nun, da es nicht mehr da war, immer noch Tränen der Trauer abpresste – ja, da begann er unruhig mit den Füßen auf dem Boden zu scharren.
»Lass uns zurückgehen«, sagte Emy leise. »Besser, du verbringst nicht so viel Zeit … hier …«
Kurz schien es, als wollte sie sich fügen. Sie wehrte sich nicht gegen seine Hand, als er sie hochzog. Sie ging sogar einige Schritte. Doch dann schrie sie auf. »Warum nicht? Darf ich nicht um meine Tochter trauern? Du hast ja eine, du hast Raymonda, du musst keinen Kummer um Aurélie leiden – aber ich, ich habe das Recht hier zu sein, wann immer ich will!«
»Niemand will es dir absprechen.«
»Natürlich wollt ihr das!«, rief sie unbeherrscht. »Das habt ihr euch doch alle gedacht, als Raymonda geboren wurde. Dass ich nun ein neues Kind habe und nicht mehr um das alte trauern müsste.«
»Alaïs, was denkst du nur! Das ist nicht wahr!«
»Doch«, erwiderte sie trotzig. »Doch, genauso war es.«
Mit eiligen Schritten stapfte sie davon. Kleine Brocken der roten Erde stoben in die Luft. Emy folgte ihr mit hängenden Schultern, und obwohl sie seine Gestalt nur aus den Augenwinkeln musterte, erfüllte sie sie doch mit Zorn.
Wie kann man nur derart schwach sein!, dachte sie – so, wie sie es damals dachte, als Aurel ihn gedrängt hatte, sie zu heiraten. So wie sie es seitdem immer wieder gedacht hatte. Wenn er sich ihren schrillen Launen fügte. Wenn er es hinnahm, dass sie sich gehen ließ, nicht kämmte, sich nicht wusch, sich keine saubere Kleidung anzog.
Und sie dachte es auch in Momenten wie diesem – wenn ihr aufging, wie erneut ein
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