Die Gefährtin des Medicus
zumindest, als Emy plötzlich weitere Worte sagte. Eigentlich sagte er sie nicht, vielmehr brachen sie aus ihm heraus, in solch einer Heftigkeit, als hätte er sie schon oft gesagt, nicht in seines Bruders Gesicht, aber zu sich selbst.
»Du wunderst dich, warum ich so hart bin, nicht wahr? Ich, dein Bruder, der für dich seine Seele gegeben hätte, dein willfähriger Diener, der immer da war, wenn du mich brauchtest. Ich habe dich vor unserem Vater beschützt; ich habe geschuftet, damit du studieren konntest; ich war an deiner Seite, als du von Montpellier verjagt wurdest und durch die Lande gezogen bist. Ja, es schien, als hätte ich für dich allein gelebt. Ich habe dir verziehen, dass du mir einst eine Fingerkuppe abgehackt hast.«
Gedankenverloren blickte er auf die verstümmelte Hand. DerAnblick schien Alaïs geradezu lächerlich harmlos verglichen mit Aureis Beinstumpf.
Er hat so viel mehr verloren als Emy, ging es ihr durch den Kopf. Aber verwundet … verwundet wurden sie beide.
»Aber denk nur ja nicht«, fuhr Emy fort. »Denk nur nicht, dass ich stets der Selbstlose war, stets der Dumme, mit dem man alles machen konnte. Ich wusste … ja, ich wusste immer, dass du der Klügere von uns beiden bist, dass dir so viel mehr zusteht als mir, dass du zu Größerem taugst, weil du mit einem größeren Talent geboren wurdest als ich. Es hat mir auch leid getan, dass Vater immer auf dich losging, immer dich peinigte, immer dich halbtot prügelte. An seiner Stelle hätte ich dir sämtliche Frechheiten verziehen, hätte sie dir nicht angelastet wie dieser alte, verbitterte Mann, der glaubte, er müsse sie dir mit Gewalt austreiben. Aber weißt du was: So sehr ich dich bemitleidete, so sehr ich dich zu schützen wünschte – es war nach Mutters Tod ja sonst niemand da –, so war es doch nicht aufrichtig gemeint, wenn ich dir hinterher mein Stück Brot gab oder meine Schale Suppe. Ich habe dir mein Essen geopfert, aber ich wusste stets, dass du entweder zu stark bluten oder dem Alten zu sehr grollen würdest oder dass du zu beschäftigt wärst, dir Gedanken über den menschlichen Leib zu machen, um meine Gaben auch zu essen! Weißt du, Aurel: Am Ende … am Ende blieb all das, was ich dir geben wollte und konnte, ja doch mir. Du warst so blind, dass du gar nicht gesehen hast, dass ich am Ende viel, viel mehr besaß als du. Nicht nur das Brot. Sondern auch Alaïs. Und schließlich die Tochter, die sie mir schenkte und die – ganz anders als die deine, die nicht genügend Kraft hatte für diese Welt – heute ein zufriedenes Leben führt. Ich habe ein Zuhause, ich habe Enkelkinder, ich weiß, wofür ich lebe. Vielleicht bin ich darum gar nicht der Dumme. Vielleicht bist vielmehr du der dümmste aller Menschen.«
Am Ende schrie er, viel lauter, als Alaïs ihn jemals hatte schreien hören. Ein triumphierender, fast irrer Ausdruck war in seinen Augen erschienen, als rühmte er sich einer Heldentat undnicht nur der Tatsache, dass er anstelle von Aurel immer satt geworden war.
Fassungslos hatte Alaïs gelauscht, nicht sicher, wie lange es schon in ihm gärte, seit wie vielen Jahren er dem Bruder diese Rechnung hatte vortragen wollen. Kaum war das letzte Wort gesagt, verlosch sein Triumph. Er drehte sich wieder zur Feuerstelle um und legte Holz nach, als wäre nichts geschehen. Alaïs war sicher: Könnte sie ihm nun ins Gesicht sehen und würde sie seinen Blick suchen, so würde er ihr das kalte Lächeln zuwerfen, das üblicherweise seine Regungen verbarg.
Aureis Holzbein knarrte auf dem Boden. Das Geräusch ließ Alaïs zusammenfahren.
Er war schon fast bei der Tür, als sie ihn zurückhielt: »Du … du kannst doch auch im alten Schuppen schlafen. Du weißt schon … der Schuppen meiner Eltern … von damals.«
Der Schuppen, in dem sie nächtelang Leichen aufgeschnitten hatten, bis Josse und Frère Lazaire sie entdeckt hatten.
Sie warf einen vorsichtigen Blick in Emys Richtung, hoffte auf seine Zustimmung. Nichts kam.
Aurel nickte. Wieder knirschte das Holzbein, dann war er nach draußen gehinkt.
Emy richtete sich auf, machte – ohne sich nach ihr umzudrehen – Anstalten, nach oben zu seiner Schlafstatt zu gehen, ungeachtet, dass es nicht Abend war, sondern Morgen. Seit Raymonda geheiratet hatte, schlief er in ihrem Zimmer und Alaïs auf der Bank beim Feuer. Alaïs versuchte etwas zu sagen, schaffte es aber nicht. Zuletzt räusperte sie sich, um der Totenstille zumindest etwas entgegenzusetzen.
»Wenn du ihm
Weitere Kostenlose Bücher