Die Gefährtin des Medicus
wollten sich genau erklären, warum die Krankheit ausgerechnet jetzt über sie gekommen war. Nach einem Monat sprach im übrigen niemand mehr von einer Krankheit, sondern nur vom großen Sterben. Alaïs ertappte sich dabei, wie sie ausrechnete, wie viele Menschen in Saint – Marthe gelebt hatten und wie viele von ihnen mittlerweile tot waren. War die Hälfte überschritten? Sie konnte es nicht sagen. Sie wusste auch nicht, ob es stimmte, dass die unheilvolle Konjunktion von Mars, Jupiter und Saturn zum großen Sterben führte. Oder die verfluchte Jeanne.
»Sie ist es«, erklärte Dulceta eines Tages. »Sie … dieses verdammte Weib …«
Alaïs begriff nicht, wen sie meinte. Sie hatte Dulceta nie gemocht, aber sie zollte ihr Anerkennung, weil sie so unermüdlich auf den Beinen war wie sie selbst, sich nicht der Trauer und der Angst hingab, sondern dem großen Sterben trotzte, indem sie Wasser holte und Brot buk und Schweine fütterte und Kinder versorgte. Trotz ihres Ekels vor Pierres Beulen mied sie den Anblick von Kranken später nicht, und solange ihre Zahl noch überschaubar war, hatte sie einige Leichname gewaschen.
Doch nun war es Alaïs, als würde auch hinter ihrem Blick nicht länger Nüchternheit hausen, sondern Wahnsinn. »Sie ist es!«
»Von wem redest du?«
»Von Jeanne natürlich!«
Alaïs überlegte, wer im Dorf Jeanne hieß, bis ihr aufging – lahm deuchten sie ihre Gedanken –, dass keine Frau von Saint – Marthe gemeint war, sondern die Enkeltochter des verstorbenen Königs Robert. Sein Sohn Charles hätte eigentlich das Königreich Neapel und die Provence erben sollen, doch nach dessen unerwartetem Tod war Robert nichts anderes übrig geblieben, als dessen älteste Tochter zur künftigen Königin zu bestimmen – und vor fünf Jahren hatte sie dieses Erbe dann auch angetreten.
»Sie hat ihren Mann ermordet!«, rief Dulceta. »Ganz gewiss hat sie das getan!«
Wieder fiel es Alaïs schwer, sich in Erinnerung zu rufen, was sie über Königin Jeanne wusste. Jeannes Gatte war André von Ungarn gewesen, fiel ihr ein. Und nach dessen Tod hatte sie Ludwig von Tarent geheiratet. Was aber hatte das mit dem großen Sterben zu tun?
»Gott straft sie«, erklärte Dulceta. »Und wir sind nur sein Mittel. Jeanne hat doch den Mord an André befohlen! Die Ungarn haben das Königreich für sich beansprucht, und darum hat sie den Gatten einfach beseitigen lassen. Warum sonst hätte sie so schnell wieder geheiratet? Wahrscheinlich hat sie mit Ludwig von Tarent schon zu Andres Lebzeiten die Ehe gebrochen.«
Dulcetas Empörung steckte Alaïs nicht an. Weniger, dass eine ferne Königin die Seuche verschuldet haben sollte, befremdete sie – jedoch, dass es da draußen überhaupt eine solche Königin gab und mit ihr eine ganze Welt. Jene Welt schien ihr in den letzten Wochen auf die Größe von Saint – Marthe geschrumpft zu sein.
»Der Bruder von König André will ihn schon seit langem rächen!«, fuhr Dulceta fort. »Aber Gott ist ihm wohl zuvorgekommen. Und jetzt zahlen wir die Zeche … für ihren Mord und ihren Ehebruch.«
Wieder schwappte Dulcetas Empörung nicht auf Alaïs über, vielmehr blitzte eine Erinnerung in ihr auf. Auch sie hatte Ehebruch begangen damals auf der Insel Mallorca, mit Sancho, derseine weißen Zähne hatte blitzen lassen und vom gebratenen Zicklein seiner Mutter geträumt hatte. An dessen Körper sie sich gerieben hatte und mit dem sie sich auf dem Sand gewälzt hatte, bis ihre Haut brannte.
Ein wehmütiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, nicht Sanchos wegen, sondern weil sie sich bewusst wurde, dass es nicht nur eine Welt außerhalb von Saint – Marthe gab, sondern auch ein Leben vor diesem großen Sterben.
»Du lachst?«, ereiferte sich Dulceta. »Du lachst?«
Schlagartig wurde Alaïs wieder ernst. »Ich lache nicht«, sagte sie schnell, »ich habe nur gedacht, dass gestern niemand krank geworden ist und heute auch noch nicht.«
»Du denkst, es könnte vorüber sein?«
Solange es nicht ausgesprochen war, hatte sich diese Hoffnung nur leise in ihr geregt. Nun tat sie es umso mehr, als Dulceta erleichtert seufzte.
Sie freuten sich zu früh. Am Abend begannen Beulen in Dul – cetas Achselhöhlen zu wachsen. Sie starb noch vor ihrer Mutter Régine. Jene wiederum war die Einzige, die in diesen Tagen nicht der Seuche erlag, sondern einfach nicht mehr aus dem Schlaf erwachte.
Alaïs sprach mit Emy nicht über Aurel. Eigentlich wechselte sie so gut wie gar kein
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