Die Gefährtin des Medicus
Geschwüre und Furunkel zu behandeln.
Ehe sie jedoch das Messer ansetzen konnte, zuckte nicht nur Pierres Leib, sondern auch die Beule. Sie schien zu zittern, als wäre sie lebendig. Alaïs wich zurück, hielt das Messer fest umklammert. Zuerst troff sämige Flüssigkeit einem dünnen Faden gleich aus der höchsten Erhebung. Dann schien sie hart zu werden wie Wachs. Es musste Eiter sein, was da hervorplatzte – und doch war die Flüssigkeit nicht von jenem reinen Gelb wie dieser, sondern von Blut durchsetzt und von schwarzen, weil abgestorbenen Hautfetzen.
Alaïs’ Messer fiel zu Boden. Pierre stöhnte nur, aber sie war sich sicher, er würde schreien, besäße er nur ausreichend Kraft.
»Was geschieht denn nur?« Dulceta schluchzte. »Was geschieht?«
Alaïs schlug ihre Hände vors Gesicht. Der üble Gestank verstärkte sich. Sie hatte den Eindruck, daran zu ersticken.
Am Morgen des nächsten Tages kehrte Alaïs heim. Die Dämmerung, die zuerst nur aus spinnwebdünnen Fäden bestand, begann immer schneller an ihrem grauen Tuch zu weben; bald ward es über jeden Flecken Nachtschwarz geworfen, obwohl Alaïs in den letzten Stunden vermeint hatte, es könne nie wieder licht und warm werden. Sie hatte sich gewaschen und fühlte sich immer noch schmutzig, war sicher, dass der Gestank sich nicht nur inihre Kleidung gegraben hatte, sondern jede Pore ihrer Haut vergiftete. Sie hatte Pierre nicht mehr angerührt, nachdem die eine Beule geplatzt war, und doch hatte sie das Gefühl, als hätte sie in jenem grässlichen Eiter förmlich gebadet.
Als sie in die Stube trat, blickten ihr Aurel und Emy entgegen, hellwach beide, als wäre es mitten am Tag. Emy harrte dessen, was sie zu sagen hatte, Aurel hingegen nahm mit düsterem Blick ihre Worte vorweg.
Alaïs schüttelte schwach den Kopf. »Er ist tot«, murmelte sie. »Er … er ist eben gestorben.«
Sie sagte das Wichtigste – und verschwieg doch so viel. Dass Pierre im Fieberwahn Dinge gesehen hatte, die es nicht gab. Dass Dulceta ihn in ihrer Furcht plötzlich angeschrien und der Lüge bezichtigt hatte. Dass sein Atem immer schwächer und schwächer geworden und schließlich verstummt war. Und dass Dulceta danach kein weiteres Kreuzzeichen geschlagen hatte, sondern hinausgestürzt war, um die klare Nachtluft so gierig einzuatmen, als wollte sie daran ertrinken.
Wir hätten den Priester holen sollen, war Alaïs viel zu spät eingefallen.
Seit Frère Lazaire Saint – Marthe verlassen hatte, gab es hier keinen Priester mehr, aber im nächsten Dorf wohnte einer. Manchmal kam er, um die Messe zu lesen.
Wortlos trat Emy zur Feuerstelle. Anders als sonst am Morgen hatte er keine Grütze aufgesetzt. Kein köstlicher Geruch nach Kräutern, Getreide und Milch lag in der Luft. Doch Alaïs fehlte dieser nicht.
»Nicht nur dieser eine Mann ist gestorben«, sagte Aurel in die Stille. »Alle … alle sind tot.«
Alaïs schüttelte wieder den Kopf, diesmal nicht, weil sie einen Kampf verloren hatte, sondern vielmehr, weil sie leugnen wollte, dass dieser längst vorbei war. Doch sie brachte keine Worte hervor. Emy tat es an ihrer statt.
Er fuhr herum. »Wenn du so redest … wenn du so redest, dann verlass mein Haus.«
Obwohl die Worte nicht gegen sie gerichtet waren, zuckte Alaïs zusammen. Sie fragte sich, warum Emy seinen Bruder so sehr hasste und wie lange schon. Seit dem Augenblick am Strand vor der Grotte, da er ihn niedergeschlagen hatte? Seit der Stunde, da er am Viehmarkt von Marseille aufgetaucht und sie von Mann und Tochter weggelockt hatte?
Vielleicht hatte seine Unversöhnlichkeit erst begonnen, als sie aus der Fremde zurückgekehrt war, zerschunden und gescheitert. Und vielleicht war sie erst vor einem Tag besiegelt worden, als er gesehen hatte, wie Aurel sie umarmt hatte.
»Du weist mir also die Tür«, stellte Aurel fest, genauso schicksalsergeben, wie er sich damit abgefunden hatte, dass der Tod stärker war als er. Alaïs konnte es nicht fassen, ihn derart gebrochen zu sehen. Eben noch war es ihr recht gewesen, dass Emy ihn verjagte, doch nun ärgerte sie sich, dass er es widerstandslos hinnahm und sich schweigend an der Tischplatte aufstützte, um sich hochzuziehen. Es war, als wären ihre Rollen getauscht, als hätte der eine das Schicksalsergebene, Stille, Milde abgestreift und weitergereicht, wohingegen dem anderen das Willensstarke, Eigensinnige, Selbstsüchtige nicht länger brauchbar schien.
War die Welt verrückt geworden?
So schien es ihr
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